ÜBERSICHT
1 Einführende Gedanken
1.1 Die gegenwärtige kirchliche Aktualität
1.2 Die Rechtfertigungslehre als Antwort auf eine unzeitgemäße Fragestellung?
2 Wer ist Gott? Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes
2.1 Das klassische Verständnis von Gerechtigkeit
2.2 Luthers Probleme mit dem klassischen Verständnis
2.3 Das katholische Stufenmodell!
3 Luthers neue Sicht
3.1 Die Rechtfertigung Gottes
3.2 Glaubensgerechtigkeit: Die Durchkreuzung des klassischen Gerechtigkeitsbegriffs
3.3 Die Sünde in Luthers Sicht
3.3.1 Sündenerkenntnis
3.3.2 Das Wesen der Sünde
3.4 Der Mensch: Sünder und Gerechter gleichzeitig: „simul iustus et peccator“
3.5 Das Problem der (guten) Werke
4 Probleme und Stärken von Luther Rechtfertigungslehre in postmoderner Beurteilung
4.1 Die Kränkung des moderne Autonomiebewußtseins durch die Behauptung des unfreien Willens und des „peccatum originale“
4.2 Die postmoderne Anforderung einer Patchwork-Identität und Luthers Rechtfertigungslehre
4.3 Fundamentalismus und die Freiheit eines Christenmenschen
Vortrag in Metzingen 1998
1 Einführende Gedanken
1.1 Die gegenwärtige kirchliche Aktualität Man streitet sich gegenwärtig wieder heftig um die Rechtfertigunglehre.
Anlaß dazu ist die anstehende Verabschiedung einer „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ durch die röm.-kath. Kirche und die evangelisch-lutherischen Kirchen in diesem Jahr. Die Erklärung liegt ausgearbeitet vor und soll nun in den Synoden der evangelischen Kirche abgesegnet werden. Darüber ist ein großer Streit unter den Theologen entbrannt.
Die einen sehen darin einen weiteren großen Schritt in Richtung Ökumene, da in diesem Dokument die Lehrverurteilungen aufgehoben sind, die vor mehr als 450 Jahren zur Kirchenspaltung geführt haben.
Der Vatikan will die evangelischen Kirchen auf taktisch kluge Weise so in seine Hierarchie eingliedern – vermuten dagegen mehr als 150 Theologieprofessoren. Sie meinen, in der Erklärung würden grundsätzliche evangelische Positionen aufgegeben und lehnen die Erklärung ab.
Grund genug, sich zu fragen, wie denn die evangelische Grundposition in dieser Frage aussieht. Grund genug, die Theologische Rechtfertigungslehre Martin Luthers zu reflektieren, um zu erkennen, worin ein sog. „protestantisches Profil“ bestehen könnte.
Freilich: Ist das nicht bloßes Theologengezänk, das heute keinen Menschen mehr interessiert?
1.2 Die Rechtfertigungslehre als Antwort auf eine unzeitgemäße Fragestellung?
Worum geht es in der Rechtfertigungslehre Martin Luthers? Luther trieb die Frage um: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Wie werde ich vor Gott gerecht?“
So fragt kein „moderner Mensch“ mehr.
In alltäglichen Lebensvollzügen spielt Rechtfertigung noch eine Rolle: Wir müssen uns hin und wieder schon für eine Tat rechtfertigen, ein Handeln oder ein bestimmtes Verhalten in einer entsprechenden Situation. Diese Rechtfertigung erfolgt vor Menschen, vielleicht öffentlich vor der Presse oder in einer Diskussion. (Beispiel: Clintons Sexaffäre oder die Rechtfertigung des ehemaligen Bundesbauministers Töpfer über ein Ausgleichszahlung in Höhe von 1/2 Million DM)
Dennoch: Die Rechtfertigungslehre ist das Zentrum protestantischen Glaubens. In ihr wird der articulus stantis et cadentis ecclesia verhandelt, also der Glaubensartikel, mit dem die Kirche steht und fällt.
Dabei geht es nicht primär um die Kirche, sondern um das, was sie, was ein Christ in ihrem Kern glaubt. In der Rechtfertigungslehre werden also die zentralen Fragen verhandelt:
Wer ist Gott?
Darin enthalten und zugleich immer mitbeantwortet:
Wer ist der Mensch? bzw. Wer bin ich?
Ich möchte in einem längeren ersten Teil die Antworten nachzuzeichnen versuchen, die Martin Luther darauf gab und sie mit einigen Texten Luthers verdeutlichen. In einigen Schlußbemerkungen möchte ich dann die zentralen Gedanken der Rechtfertigungslehre Luthers auf Aktualität für heute befragen.
2 Wer ist Gott? Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes
>Im Zentrum der RL steht die Frage nach „Gottes Gerechtigkeit“. Wer ist Gott, wenn Gerechtigkeit zu seinen Attributen, zu seinen Eigenschaften zählt?
Welchen Stellenwert hat diese Gerechtigkeit Gottes unter den anderen Eigenschaften, die ihm zugeschrieben werden, z.B. der Liebe, der Barmherzigkeit, dem Zorn ?
Wie äußert sich diese Gerechtigkeit?
Diese Fragen haben Martin Luther umgetrieben und ihn schließlich zu vollkommen neuen (biblischen!) Einsichten geführt, die in ihrer Konsequenz zur Reformation und zur Trennung von der katholischen Kirche führten
Werfen wir also zunächst einen Blick auf das, was man herkömmlicherweise mit Gerechtigkeit verbindet.
2.1 Das klassische Verständnis von Gerechtigkeit
Gerechtigkeit ist zunächst ein juristischer Begriff. Wir alle kennen die bildliche Darstellung der Gerechtigkeit, der „IUSTITIA“: Eine Frau mit verbundenen Augen und einer Waage in der Hand. Die verbundenen Augen symbolisieren die Neutralität und Unparteilichkeit der Justiz: Der Mensch wird ohne Ansehen der Person beurteilt und jedem wird nach gleichem Recht sein Urteil gesprochen. Jeder erhält das Urteil, das er verdient. (Iustitia distributiva; Suum cuique). So formulierte es schon klassisch formuliert der griechische Philosoph Aristoteles.
(Folie zeigen und auf Gott übertragen)
Übertragen auf die Gerechtigkeit Gottes bedeutet dies dann:
Gottes Gerechtigkeit besteht darin, daß Gott wie ein gerechter Richter handelt und uns entsprechend beurteilt.
Die Frage des Menschen lautet entsprechend:
Wann bin ich Gott „recht“, d.h. wann entspreche dem, was ich vor Gott eigentlich sein soll (also der Norm Gottes)? Und die Antwort ist klar und einleuchtend: Wenn ich eine Summe guter Werke vorweisen kann, die meine schlechten aufwiegen – dann bin ich vor Gott gerecht.
Im Hintergrund dieses Modells steht hier folgende Vorstellung und Ansicht über den Menschen:
Wenn es richtig ist, daß wir gerecht und gut werden, indem wir gerecht handeln und Gutes tun, (Iusta operando iusti efficimur), dann bedeutet das für den Menschen: Das Tun bestimmt das Sein des Menschen!
bzw persönlich und drastisch formuliert: Du bist, was du tust! Oder noch drastischer: Du bist so viel wert, wie du leistest!
Und dies gilt nun nicht nur im irdisch-menschlichen Rahmen, sondern auch in der Beziehung des Menschen zu Gott! Nicht zuletzt deshalb ging Luther ins Kloster, um diesem Gerechtigkeitsideal zu entsprechen.
Je länger desto mehr bekam er damit Probleme.
Wie Luther erging, schildert er 1545 in einem autobiographischen Rückblick in der Vorrede zum ersten Band seiner lateinischen Schriften, ein Jahr vor seinem Tod.
Ich möchte den ersten Teil des Rückblicks lesen. 2.2 Luthers Probleme mit dem klassischen Verständnis
Text: 1545 1. Teil 1:bis Z.19
Luther schaffte es nicht einmal, mit äußerstem Einsatz an Frömmigkeit und Lebenspraxis, als „untadeliger Mönch“ ein positives Urteil eines gnadenlosen Richter-Gottes für sich zu erwarten. Stets blieb sein Gewissen angefochten. Stets fühlte er sich als Sünder. Das Evangelium, eigentlich eine Frohbotschaft, erschien ihm als Drohbotschaft
Auch die herrschende mittelalterliche katholische Lehre bot ihm da keine Hilfe. Dort wurde sogar von der Gnade gesprochen! Und zwar von einer Gnade, die nicht durch Anstrengung zu erlangen war! Da wurde – entgegen landläufiger Meinung – keine plumpe Werkgerechtigkeit gepredigt. Die aristotelische Vorstellung hatte natürlich weiterhin ihr gutes Recht. Sie war von dem großen mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin aufgegriffen und christlich modifiziert worden!
Wie sah diese Vorstellung aus, die übrigens – von einigen wenigen Änderungen und anderen Formulierungen abgesehen – bis zum heutigen Tag für die katholische RL maßgebend ist?
Sie dürfte ein grundlegendes Modell sein, das viele gläubige Menschen bis zum heutigen verinnerlicht haben.
2.3 Das katholische Stufenmodell!
Folie mit Waage darstellen:
Nach dem Sündenfall Adams und Evas, im Stand der Erbsünde ist der Mensch unfähig, solche Werke zu vollbringen, die als gute Taten die schlechten Werke aufwiegen könnten. Der Mensch kann beim besten Willen nicht aus eigener Kraft mit Gott ins reine kommen. Deshalb kommt ihm Gott in seiner Gnade zu Hilfe. Er schenkt ihm in der Taufe (n.B. also kirchlich sakramental vermittelt!) die Gnade, die die Vergebung der Sünden beinhaltet.
„Gott gestaltet durch das Sakrament der Taufe den Menschen, der sein Feind war, zu seinem Freund um, Damit ist eine weitere Phase eröffnet, das Leben des getauften Christen, in dem die Rechtfertigung sich als Glaube, als Hoffnung und Liebe entfaltet. Das Ende des ganzen Prozesses bildet das Jüngste Gericht, in dem Gott endgültig über einen Menschen entscheidet.“
Die Rechtfertigung wird hineingestellt in einen Heilungsprozeß: Die Gnade und der Mensch wirken jetzt zusammen.
Wie gesagt: Selbst diese Vorstellung von Gottes Gerechtigkeit, die ja seine große, bedingungs- und voraussetzunglose Gnade beinhaltet, hilft Luther nicht ins seinen Fragen.
Sein Gewissen wird nicht rein! Ihn plagen stets Zweifel, ob Gott ihn im Endgericht wirklich annehmen wird!
Im diesem katholischen und für viele Christen einleuchtenden Modell steht ja immer noch die Vorstellung im Hintergrund: „Gott soll dem Menschen recht geben!“ Gott soll den Menschen in seinem Tun(!) anerkennen! : Das Tun bestimmt weiterhin das Sein des Menschen!
3 Luthers neue Sicht
An seiner Rechtfertigung durch Gott scheitert Luther solange, bis sich für ihn durch sein Bibelstudium die Verhältnisse total umkehren.
3.1 Die Rechtfertigung Gottes
Durch das Wort Gottes, in dem sich Gott offenbart, (Luther dachte zuerst an die Bibel, später wird er auch die Predigt des Evangeliums dazu rechnen!) wird der Mensch zu einer Antwort herausgefordert. Der Mensch soll Gott recht geben und nicht umgekehrt.
Es geht in der Rechtfertigungslehre also nicht nur um die Rechtfertigung des Menschen vor Gott, sondern um die Rechtfertigung Gottes im Menschen.
Der Mensch soll Gott in seinem (Gottes) Tun recht geben. Gott recht geben, das heißt „glauben“, „aus Glauben leben“.
Was dieses „aus Glauben leben“ für das Verständnis von Gottes Gerechtigkeit bedeutet, schildert Luther in dem schon angelesenen Rückblick 1545 so:
Text Z.19-32 vorlesen
Die „Gerechtigkeit Gottes“ ist jetzt unabhängig von den Taten und Werken des Menschen. Sie ist „Geschenk“. Sie ist die Tat Gottes, der den Menschen gerecht macht. Gerechtigkeit Gottes fällt so fast mit „Barmherzigkeit“, „Liebe“, „Güte“ und Gnade Gottes zusammen. (Übrigens: das ist auch der ursprünglich biblische Sinn:, z.B. in der Rede von der Gerechtigkeit Gottes im AT, vgl. z.B. Jes 42,6; Jes 51; Ps 31,2; usw.)
3.2 Glaubensgerechtigkeit: Die Durchkreuzung des klassischen Gerechtigkeitsbegriffs
Luther redet fortan die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt .- Später in der Übersetzung des Römerbriefes hat Luther anstatt „Gerechtigkeit Gottes“ übersetzt „die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“. Er wollte damit verhindern, daß „Gerechtigkeit Gottes“ im klassischen philosophischen oder katholischen Sinn mißverstanden wird.
Diese Gerechtigkeit Gottes hat ihren Raum außerhalb aller geläufigen Vorstellungen, außerhalb aller „Rechtsvorstellungen“ von gerecht und ungerecht. Bei ihr handelt es sich um Gottes Heilshandeln, um Gottes grundsätzliches Ja zum Menschen in Jesus Christus, das menschliche Gerechtigkeitsvorstellungen „durchkreuzt“.
Graphik
„Das ist Luthers eigentliche Leistung in der Rechtfertigungslehre, daß er die Gerechtigkeit nicht vom Werk her versteht, sondern ein Gerechtsein, ein Gerechtgesprochen-Werden des Menschen kennt, das sich in einer Sphäre vollzieht, die der seines Wirkens von daher vorgeordnet ist!“
Die Gnade steht total außerhalb des Gesetzes, außerhalb der Werke!
Darum kann hier Gott nur „allein durch den Glauben“ recht gegeben werden. Der Mensch wird nicht durch seine Taten oder Werke – auch nicht unter Mithilfe der Gnade! Gerecht. Er wird nicht im Glauben gerecht, sondern „allein aus Glauben“. Vielleicht sollte man hier auch einmal bemerken, daß Luther bei seiner Bibelübersetzung, bei der sich er ja bekanntlich ganz an den Urtext hielt, an einer Stelle ein Wort hinzugefügt hat, das im Urtext fehlt:
Röm 3,28: müßte eigentlich heißen: „Darum sind wir der Überzeugung, daß der Mensch gerecht wird durch Glauben, unabhängig von Werken des Gesetzes.“
Luther setzte jedoch konsequent das Wörtchen „allein“ hinzu, so daß dieser Vers lautet:
„So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“
So kann er dann auch von der Gerechtigkeit Gottes schreiben:
ev. Luther Text 1535 zur Unterscheidung zw. aktiver u. passiver Gerechtigkeit lesen!
„Zwei Welten“ (vgl. Z.8f) liegen zwischen den Gerechtigkeitsvorstellungen.
Glauben heißt, Gott in seiner Gerechtigkeit recht geben, einer Gerechtigkeit, die die menschliche, irdische Gerechtigkeitsvorstellung im doppelten Sinne des Wortes „durchkreuzt“.
Am Kreuz erkennen wir den Glauben, der die Gerechtigkeit nur von Gott empfängt.
„So vollendet sich der Glaube, der Gott recht gibt, in der Anbetung des Kreuzes. Das Kreuz ist nicht nur ein historisches Ereignis, sondern es ist das Zeichen dafür, daß der Mensch all seiner Kraft und Würde, seine Fühlens und Empfindens entkleidet, nackt und bloß auf Gott geworfen ist. Das Kreuz prüft den Glauben, ob wir wirklich ganz und allein Gott meinen und im Sinne haben.“ Das Kreuz ist somit Sinnbild dafür, daß die klassische und katholische Vorstellung von der Gerechtigkeit Gottes mit ihrer Festlegung des Menschen auf sein Tun, auf Gott bezogen in die Irre führt. Das Sein des Menschen wird nicht durch sein Tun konstituiert, sondern ist „extra nos“, außerhalb von uns in Gott gegründet und verankert.
Der Glaubende sagt JA zu Gottes JA und gibt Gott so recht.
3.3 Die Sünde in Luthers Sicht
> Gott recht geben beinhaltet allerdings ein zweites: Die Einsicht in das eigene Sündersein
3.3.1 Sündenerkenntnis
Luther meint, daß uns Gott mit der Menschwerdung des Sohnes, mit seinem Kreuz und Leiden auch einen Spiegel vorhält. In diesem Spiegel erkennen wir, wie Gott die Lage des Menschen sieht – mag der Mensch selbst sie auch ganz anders sehen..
Wenn wir uns selbst wirklich sehen wollen, müssen wir in einen Spiegel schauen. Die Beschaffenheit des Spiegels und insbesondere das Silber hinter dem Spiegel ist dafür verantwortlich, ob und wie gut wir uns selbst erkennen. In Jesus Christus und vor Gott erscheint nun die Grundeinstellung und Grundhaltung des Menschen. Hier sieht er sich so, wie Gott ihn sieht. Und Gott sieht ihn als so verloren an, daß kein Gesetz, kein Sollen, kein Ideal, kein noch so gutes Wollen, kein noch so gutes Werk ihm helfen kann.
(„Gott bringt dadurch, daß er aus sich herausgeht, uns dazu, daß wir in uns gehen und durch die Erkenntnis seiner selbst bringt er uns auch die Erkenntnis unsrer selbst.“)
Der Mensch ist Sünder – total und ganz.
3.3.2 Das Wesen der Sünde
Sünde ist nach Luther nun kein moralischer Defekt. Die Sünde äußert sich beim Menschen auch nicht in irgendeinem moralischen Schuldbewußtsein, nicht darin, daß der Mensch „merkt, daß er versagt hat“. Das bleibt alles oberflächlich und verharmlosend nach dem Motto: „Wir sind alle kleine Sünderlein“.
Die Sünde, die dem Menschen im Spiegel der Offenbarung Gottes aufgeht, ist die „Grundeinstellung und Grundhaltung“ des Menschen, die eben im Kern nicht gut ist. Der Mensch will, selbst wo er das Gute will, sein Gutes. Die Sünde ist die Lebenskraft, in der der Mensch sich selbst zu behaupten sucht. Das „Verkrümmtsein“ in sich selbst (incurvatus in seipsum), seine ausschließliche Selbstbezogenheit, sein Egoismus, der sich auch hinter den Taten selbstloser Nächstenliebe und Frömmigkeit verbergen kann. (Letzteres nennt Luther die „geistliche Selbstsucht, concupiscientia spiritualis“). Somit entfällt für Luther auch die katholische Unterscheidung zwischen „läßlicher, verzeihlicher Sünde“ und „Todsünde“.
Die Sünde ist in jedem Menschen Wirklichkeit, sie ist „Erbsünde“, besser: Ursprungs-Sünde
Aus dieser Sünde kann sich der Mensch beim bestem Willen nicht selbst befreien. Der Mensch ist einer, der stets das Gute will, aber es nie ganz schafft.
So wie Paulus es in Röm 7 schreibt: „Das Gute, das ich will, tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, tue ich.“
Die Willensfreiheit – also die Wahlfreiheit des Menschen zwischen Gut und Böse – ist nach Luther die Grundtäuschung des Menschen über sich selbst!
Was geschieht nun, wenn ein Mensch glaubt, wenn er dem Geschenk der Rechtfertigung durch Gott vertraut?
3.4 Der Mensch: Sünder und Gerechter gleichzeitig: „simul iustus et peccator“
Über die Erbsünde kommt der Mensch auch als Glaubender nicht hinaus.
Luther meinte zunächst, daß Vergebung der Sünde (remissio peccati) und Wegschaffung der Sünde (ablatio peccati) dassselbe seien. Er meinte, die Sünde sei für den Glaubenden eine hinter ihm liegende Angelegenheit, und erkannte, daß daraus Selbstsicherheit, Trägheit und Stolz des Menschen erwuchs. Die Sünde kommt dann also durch die Hintertür wieder herein.
Deshalb korrigierte Luther seine und die damals gängige kirchliche Meinung: Der Christenmensch ist zeitlebens ganz und gar Sünder, aber auch ganz und gar gerechtfertigt. (Totus iustus – totus peccator). Er lebt also in einer unauflöslichen, jedoch nicht unentschiedenen Spannung.
Der Glaube und die Rechtfertigung durch Gott hat an der „Natur“ der Sünde, oder wie Luther auch sagen kann, in ihrer „Substanz“ nichts geändert. Aber nicht mehr derselbe ist der Mensch. Die Veränderung, die durch die Barmherzigkeit und die Vergebung Gottes in uns hervorgerufen wird, ist eine totale. Bis dahin lebte der Mensch bewußt oder unbewußt unter dem Gericht seiner Werke, also aus seinem sittlichen Selbstbewußtsein aus dem Bewußtsein heraus, es für sich und für andere wirklich recht machen zu können. Jetzt lebt er jetzt aus dem Glauben, daß Gott dem Sünder gnädig ist. Luther kann so sagen: wir sind Sünder dem Tatbestande nach,. Gerechte in der Hoffnung. (Peccator in re – iustus in spe). Beides gleichzeitig und doch so, daß beide -Sünder und Gerechter – im Menschen gleichwertig nebeneinander stehen, sondern der Kampf (von Gott her!) eigentlich schon zugunsten des Gerechten entschieden ist.
3. 5 Das Problem der (guten) Werke
Wenn ich nun aber stets Sünder bleibe, wenn mir Gott seine Gerechtigkeit schenkt ohne mein Zutun, gratis, allein aus Glauben, dann ist es doch völlig gleichgültig, wie ich mich verhalte! Aus meiner Sünde komme ich nie heraus, von Gott bin ich angenommen – also: Laßt uns leben, wie es uns gefällt, zu unserem eigenen Vorteil und zu unserem eigenen Genuß.
Dieser Vorwurf wurde Luther – wie vor ihm schon dem Apostel Paulus! – gemacht.
Er trifft freilich nur dann zu, wenn Glauben als ein rein intellektueller Akt verstanden wird, als eine verstandesmäßige Zustimmung zu der Aussage, daß Gott mich gerecht macht. Doch Glaube ist jedoch für Luther „Gott recht geben“, „Gott vertrauen“. Gebe ich Gott recht, dann gebe ich ihm auch in seinem Anspruch auf die Welt, auf ein gutes und gerechtes irdisches Miteinander recht. Ich gebe dann Gott mit seinen Geboten und seinen Gesetzen recht. Und darin sind eben Taten gefordert. Ein Christ kann deshalb nie ohne Taten sein.
Alles hängt nun jedoch wieder von der Einschätzung der Taten ab. Die Taten des aus Glauben Gerechtfertigten werden nach Luther „qualitativ“ andere sein als die besten Taten eines nicht-Glaubenden , obwohl sie von außen besehen denselben wie aus dem Ei gepellt gleichen oder sogar als großartiger angesehen werden. Die Taten des aus Glauben Gerechtfertigten sind einzig und allein Taten für andere und sehen einzig und allein den Nächsten in seiner Not. Am prägnantesten hat dies Luther in der Schrift: „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ 1520 dargestellt mit denen ich die Darstellung Luthers abschließen möchte.
Textauszug aus: Nr. 24.25.26.27
4 Probleme und Stärken von Luther Rechtfertigungslehre in postmoderner Beurteilung
4.1 Die Kränkung des moderne Autonomiebewußtseins durch die Behauptung des unfreien Willens und des „peccatum originale“
Das wohl anstößigste in Luthers Rechtfertigungslehre ist seine Sicht des Menschen als total von der Sünde beherrschter. „Mein Sünd‘ mich quälte Tag und Nacht, darin ich war geboren. Ich fiel auch immer tiefer drein, es war kein Guts am Leben mein, die Sünd‘ hat mich besessen“ (EG 341) – ich kann den Unmut vieler über das verstehen, was Luther auch noch im Lied gedichtet hat.
Muß denn der Mensch so „klein gemacht werden“, menschliches Leben „madig“ gemacht werden, nur um dem Menschen dann die Barmherzigkeit und Gnade verkündigen zu können? Und wie oft wurde solch eine Sicht der Dinge auch mißbraucht, um Menschen „klein“ zu halten, um ungerechte Machtstrukturen zu erhalten?
Gilt es da nicht vielmehr, solches aufzudecken und mit klarem Verstand und gutem Willen Mißstände anzupacken und zum Guten zu wenden? Resultiert das „Böse“ in der Welt nicht einzig und allein aus mangelnder Erkenntnis und fehlgeleitetem Willen der Menschen? Sodaß der Mensch nur fähig gemacht werden muß, „sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ und dann mit richtiger Einsicht sich für das Gute entscheiden wird?
Dennoch: „Der freie Wille gehört zu den Lichtern, mit denen sich die gottferne Menschheit die Nacht, in der sie wandelt, ein wenig erhellt.“
„Die Willensfreiheit -also die Wahlfreiheit des Menschen zwischen Gut und böse – ist die Grundtäuschung des Menschen über sich selbst“ hat der Theologe Hans-Joachim Iwand in Anlehnung an Luther gesagt.
Und ganz so unrecht hat er damit ja nicht. Wir wissen ja mittlerweile von der Psychologie, daß jeder Mensch nicht nur die „hellen Seiten“ hat, sondern einen Schatten, einen Ort, in dem verborgene, nicht gelebte und unausgesprochene und verdrängte Wünsche und Sehnsüchte und hausen, die wir als moralische und zivilisierte Menschen öffentlich weit von uns weisen oder bei uns gar nicht für möglich halten Ein Kommentar zu den schrecklichen Verbrechen im jugoslawischen Bürgerkrieg war da schon ehrlicher: Der „Tschetnik in uns“ war er betitelt.
Zielt nicht Luthers Beschreibung des Christenmenschen als gleichzeitig Sünder und Gerechter auch in diese Richtung einer realistischen Selbstwahrnehmung des Menschen? Führt sie nicht sogar über sie hinaus, insofern der Mensch als von Gott Gerechtfertigter und Angenommener sich und seinen Schatten annehmen kann?
4.2 Die postmoderne Anforderung einer Patchwork-Identität und Luthers Rechtfertigungslehre
Sein oder Design – das ist hier die Frage.
Du bist, was du aus der machst! Du mußt dich in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich geben! (Rolle/Maske?) Du mußt dich so präsentieren, daß du etwas darstellst: Du bist der Designer deines Lebens. So lautet das Credo der Postmoderne. Der Mensch muß sich sein Selbst, seine Identität wie einen Flickenteppich aus verschiedenen Rollen, Stellungen und Positionen zusammenstellen. Das Sein ist „Design“. Zusammengebastelt, gekünstelt, geformt. Man spricht in diesem Zusammenhang von „Patchwork-Identität“ . Dieser postmoderne Ansatz entspricht eher dem aristotelischen und kath. Ansatz, der lautet: Das Tun bestimmt das Sein des Menschen. (Vgl. iusta operando, iusti efficimur.bzw. opera non facit personam, sed persona facit opera)
In diesem System bleibt sogar Platz für die Religion. Hier kann sogar noch die „Gnade Gottes“ eingebaut werden als „Schmiermittel“, vielleicht als „Doping“: Religion und christlicher Glaube vermitteln „Lebenshilfe“ und stellen eine Spiritualität bereit, die die Kraft zum Erfolg vermittelt, so nach dem Motto: Erfolg durch den Glauben!
Luther scheint dagegen veraltet zu sein.
Das Kreuz ist kein gutes Design! Kreuz ist kein Schmuckstück, sondern ein Schandpfahl! Das Kreuz beinhaltet vordergründig nicht Stärke, sondern Schwäche, Ohnmacht statt Macht! Obwohl dahinter die Allmacht der Liebe verborgen ist.
Und doch: Als Designer seines Lebens bleibt der Mensch ganz auf sich allein gestellt.
Luther hat uns da anderes zu sagen: Unser menschliches Leben ist unverbrüchlich „extra nos“ außerhalb unserer selbst verankert („gerechtfertigt“). Jedes Leben hat Lebensrecht – auch und gerade bei unzureichendem Design, sei es nun allgemein weltlich oder auch religiös (!!) ramponiert oder gar zerstückelt!
Diese Position Luthers könnte heute höchst aktuell sein oder werden: Wenn Menschen sich eben nicht mehr „darstellen können“ – aufgrund körperlicher und gesundheitlicher Gebrechen, z.B. Alte und Behinderte, oder aufgrund materieller Nöte (z.B. Obdachlose), aufgrund mangelnder gesellschaftlicher Chancen (z.B. Arbeitslosigkeit) oder auch aufgrund psychischer Schädigungen.
Unser Sein ist unverbrüchlich in Gott gegründet!
Das könnte nicht nur für die Betroffenen persönlich befreiend wirken, sondern eine hilfreiche Anfrage oder gar Orientierung für eine in Materialismus und Individualismus gefangene Spätwohlstandsgesellschaft sein.
4.3 Fundamentalismus und die Freiheit eines Christenmenschen
Luthers RL, die die Freiheit des Christenmenschen als ihr kritische Spitze herausstellt, ist antifundamentalistisch.
Fundamentalismus sucht sein Fundament im Vorfindlichen bzw. baut ein religiöses System gedanklich so auf, daß es ein Fundament ist, aber häufig eben als menschliches Konstrukt, umgeben mit der Aura göttlicher Autorität .
>> Du mußt glauben! Du mußt „für wahr halten“.
Glaube darf dann kein existentieller Akt sein, der immer wieder angefochten sich in die Arme Gottes flieht wie bei Luther.
Dabei gibt es kein eindeutiges „Schwarz – oder Weiß“, wiedergeboren und ein rechter Christ oder verloren in Ewigkeit usw. Nach Luther ist der Christ beides: Gerecht und Sünder zugleich. Das befreit vom Fanatismus. Das hält dazu an, den eigenen „Adam“, den alten Menschen täglich neu zu ersäufen! Denn: Der Kerl kann schwimmen!
Anfechtung und Zweifel, Kampf u. Streit im Menschen gehören zum Christsein dazu!
Bei Fundamentalisten findet man häufig einen zwanghaften Glauben – er muss sich ja selbst beweisen u. selbst erhalten, einschl. der Tatsache, dass man „dazugehören“ muss – zur Schar der Erretteten, der wirklich „recht Gläubigen“.
Dagegen befreit der Glaube, von dem Luther spricht: frei zur mutigen, zur offenen Tat für den anderen!! Nicht concupiscientia spiritualis!
Schlußsatz von der Freiheit eines Christenmenschen:
So lebt ein Christenmensch nicht in sich selbst, sondern in Christus und in seinem Nächsten. In Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fährt er aufwärts zu Gott, von Gott fährt er wieder abwärts durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und der göttlichen Liebe.
Siehe, das ist die rechte, geistliche Freiheit, die das Herz von allen Sünden, Gesetzen und Geboten frei macht. Sie überragt alle andere Freiheit wie der Himmel die Erde. Gott gebe uns, dass wir sie recht verstehen und festhalten! Amen.“