Markuspassion J.S. Bach
Theologische Gedanken, Interpretation Libretto, Parodieverfahren, Rekonstruktion durch Andreas Fischer, Hörerlebnisse
Ausarbeitung anlässlich einer Auffühung dieser Passion (nach der Rekonstruktion von Andreas Fischer) im April 2019
Eine Werkinterpretation der Markuspassion von J.S. Bach stellt im Gegensatz zu vielen Einführungen in andere musikalische Werke vor große Herausforderungen. Von diesem Werk liegen nur das Libretto und die mit ihm verbundenen musikalischen Formen schriftlich gesichert vor. Es ist keine Notenfassung der dazu passenden Musik überliefert. Spätestens seit dem Fund einer Textabschrift der Passion 2009 in St. Petersburg ist allerdings gesichert, dass J.S. Bach die Markuspassion mindestens zweimal, nämlich in den Jahren 1731 und 1744 in Leipzig aufgeführt hat. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden verschiedene Versuche unternommen, entsprechende Chor- und Instrumentalarrangements zu den einzelnen Texten dieser Passion zu rekonstruieren. Die fehlende Originalmusik bringt manche sogar dazu– etwas herabsetzend – solche Aufführungen der Markuspassion als „Phantommusik“[1] im Stile J.S. Bachs zu bezeichnen.
Die Nürtinger Kantorei führt 2019 die Markuspassion nach dem bislang letzten Rekonstruktionsversuch des Hamburger Kantors Andreas Fischer (2015) auf.
Eine Einführung in diese Version der Markuspassion muss zunächst die Textfassung (Libretto) der Markuspassion analysieren. Zu dessen Verständnis können Hintergrundinformationen zur Passionsgeschichte des Evangelisten Markus als Einführung hilfreich sein. Erst dann können die Vorgehensweise und die Maßstäbe dargelegt werden, mittels derer Andreas Fischer „seine“ Markuspassion nach J.S. Bach in einem – an Bach angelehnten – Parodieverfahren aufführungsreif rekonstruierte. Abschließend soll dann noch die Aussagekraft und spirituelle Bedeutung dieser Werkrekonstruktion an einigen Beispielen konstruktiv-kritisch dargelegt werden.
So ergibt sich folgende Einteilung:
3. Das Libretto der Markuspassion (Christian Friedrich Henrici [genannt Picander]/J.S. Bach)
5. Hörerlebnisse – Theologie, Spiritualität und Musik
2. Passionsgeschichte des Evangelisten Markus
– Vergleich mit anderen Evangelien und theologische Intention
Die Passionsgeschichte im Markusevangelium ist die älteste uns vorliegende schriftliche Schilderung der Passion Christi und wurde vermutlich rund 35 Jahre nach Jesu Tod um das Jahr 70 nChr niedergeschrieben. Zuvor wurde sie gewiss viele Jahre mündlich weitererzählt und erhielt dadurch ihre Gestalt. Sie liegt auch den Passionsgeschichten der drei anderen Evangelien zugrunde. Deren Ergänzungen und Erweiterungen bringen jeweils die Interpretationen und Glaubensintention der Evangelisten in ihrer Zeit und Umgebung zum Ausdruck. So unterscheidet sich z.B. die Passionsgeschichte des Johannesevangeliums sehr stark von der des Markusevangeliums.[2]
Die Passionserzählung im Markusevangelium dürfte den historischen Geschehnissen nach der überwiegenden Meinung von Forschern am nächsten kommen. Sie umfasst bei Markus 1/8 des gesamten Evangeliums. Damit unterstreicht Markus die Wichtigkeit der Passion Jesu für den christlichen Glauben. Viele Theologen sprechen deshalb davon, dass die Evangelien „Passionsgeschichten mit verlängerter Einleitung“ seien. Allerdings trifft dies m.E. so nicht zu. Eine solche Einschätzung resultiert aus einer theologischen Interpretation, die sehr stark das Leiden Jesu „für uns“ (‚pro nobis‘) und damit die Nähe und Übereinstimmung mit den Aussagen des Apostels Paulus betont. Verstärkt wird diese Sicht durch die Tatsache, dass das „für uns“ im kirchlichen und gemeindlichen Gebrauch sowie in der privaten Frömmigkeitspraxis bis heute in verkürzter Weise mit einer gängigen Auffassung aus dem Mittelalter gedeutet wird. Es handelt sich um die sogenannte „Satisfaktionstheorie“ von Anselm von Canterbury. Verkürzt, volkstümlich eingängig und in den bis heute gängigen Rechtstraditionen besagt diese „Theorie“ folgendes: eine schuldig machende Tat und die sühnende, d.h. wiedergutmachende Leistung, müssen in einem Verhältnis stehen und haben einander zu entsprechen. Durch die Sünde verletzt der Mensch die Ehre Gottes aufs Tiefste. Diese Ehre kann nicht durch menschliche Taten oder Sühneleistungen wiederhergestellt werden. Gott könnte dafür die Menschen bestrafen, angemessen dafür wäre als Sühne nur die Todesstrafe. Stattdessen schickt Gott in der Anselm folgenden Auslegung seinen Sohn ans Kreuz, um die Schuld der Menschen mit Jesu „Blut“ zu sühnen. Jesus stirbt „für unsere Sünden“ am Kreuz.
Dieses „für uns“ findet sich allerdings in der Passionsgeschichte des Markusevangeliums so gut wie gar nicht. Nur im Kelchwort der Einsetzung des Abendmahls („Das ist mein Blut des Neuen Testaments, das für viele vergossen wird“) erscheint es – beim Brotwort ist es nicht ausgeführt.[3] „Für uns gestorben“ ist somit nicht die bestimmende Deutefigur der Passionsgeschichte des Markusevangeliums. Die Passion Jesu erscheint hier als logische Konsequenz aus Jesu gesamter Lebensweise, seiner Zuwendung zu den Ausgegrenzten und Schwachen und seiner Verkündigung der Liebe Gottes zu allen Menschen und des Kommens des Reiches Gottes. „Der älteste Passionsbericht deutet Zug um Zug Jesu Sterben als ein Geschehen, das unter dem unabweisbaren, von Gott gesetzten „Muß“ steht[4]. Durch die Formulierungen „auf dass erfüllet würde die Schrift“ und „es steht geschrieben“ (14,24; 14,49!!) sowie Anspielungen und direkte Zitate aus der hebräischen Bibel wird dies untermauert. Jesus gilt als der in Jes 53 geschilderte leidende Knecht Gottes, „der unsere Krankeit trug und auf sich unsere Schmerzen lud“[5]. An Jesus toben sich alle gottlosen, lebensfeindlichen Verirrungen der Menschen, ihre Sünden, aus und bringen ihn zu Tode. Jesus ist der leidende Gerechte, „der um seines Eintretens für die Sache Gottes willen aus der Gemeinschaft der Menschen ausgestoßen wird und so als ein von Gott und den Menschen Verlassener dasteht, aber trotzdem bei Gottes Willen bleibt und von ihm allein Hilfe erwartet“[6]. In diesem Sinne ist Jesus „wahrlich Gottes Sohn gewesen“[7]. Schwer glaubhaft für die Jünger – auch noch nach der Auferstehung Jesu. (vgl. Mk 16,11-14). Der Auferstandene muss ihnen dann ausdrücklich dieses als Vermächtnis und Auftrag mitgeben und in ihr „Herzensstammbuch“ schreiben: „Geht hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur“ (Mk 16, 15).
3. Das Libretto
Der vorhandene Text der Markuspassion – also das Libretto – stammt von Christian Friedrich Henrici (genannt Picander), der für viele andere Bachkompositionen den Text geliefert hat.[8] Als Grundgerüst fungiert die Passionsgeschichte des Markusevangeliums, umrahmt von einem Eingangs- und Schlusschor. Anders als in anderen Passionen, Oratorien und Kantaten Bachs scheinen in dieser Passion neben den klassischen – nur von der Continuogruppe begleiteten – secco-Rezitativen die von Instrumenten begleiteten Rezitative (Accompagnati/Ariosi) zu fehlen. Arien sind sehr spärlich eingestreut – sie wurden in der Aufführung von 1744 um zwei weitere ergänzt. Sie betrachten wie in anderen Werken Bachs die vorangegangene Situation in existentieller Betroffenheit. 16 Choräle entstammen Strophen unterschiedlichster, z.T. heute nicht mehr bekannter Kirchenlieder. Entsprechend der Leipziger Tradition wurde die Passion in zwei Teilen musiziert – vor und nach der Predigt. Jede Hälfte der Markuspassion enthält formgerecht 1 Chor, 7 Choräle und drei bzw. vier Arien.
Die Kernaussage dieser Passion zeigt sich sehr gut in den aufeinander bezogenen Chören, dem Eingangs- und Schlusschor. Die Passion mit ihrer Schilderung des Leidens Jesu nimmt die Christen (immer wieder?) mit auf einen „Weg zum Trost“.
Die Zuhörer bzw. die Musizierenden werden als Beteiligtes „Ich“ sofort in das Geschehen einbezogen, wenn sie Jesus zu Beginn auffordern „Geh zu deiner Pein! Ich will so lange dich beweinen, bis mir dein Trost wird wieder scheinen!“. Getröstet geht dieses „Ich“ dann aus der Passion (bzw. der jeweiligen Passionsaufführung) heraus. Im Schlusschoral liest das „Ich“ auf dem Grabstein Jesu von seiner Erlösung aus Not, Sünde und Pein. Durch die mystische Vereinigung des „Ich“ mit Jesu sind diese mit Jesu begraben. Sie können jetzt das gläubige „Ich“ nicht mehr belasten. Es kann „von Herzen froh und dankbar sein.“
Musikalisch begleitet das „Ich“ Jesus durch dessen Passion. An der Seite Jesu erlebt es in dessen Leiden und Tod seine eigenen Leiderfahrungen/Passionen in verschiedenster Ausprägung- bis ihm „sein Trost wird wieder (!) scheinen“.
In den Chorälen werden durch Picander bzw. J.S. Bach die verschiedensten Bedrängnisse und existentiellen Leiderfahrungen des „Ich“ thematisiert und in den Kontext von Gottes Trost gestellt. Dazu einige Beispiele:
· Das „Ich“ ist bedrängt von der Verdächtigung, Christen kämen ihrem Auftrag nicht nach. Sie setzten enorm viel Geld für „Verkündigung und Gottesdienst“ anstelle für „Armenhilfe“ ein. Einige murren nach der Salbung Jesu durch eine Frau mit teurer Nardensalbe: „Man könnte dieses Wasser mehr denn um dreihundert Groschen verkauft haben und dasselbe den Armen geben“. Dieses wird „protestantisch“ mit einem Choralvers von Justus Jonas, einem Mitstreiter Luthers, kommentiert und zurechtgerückt: „Sie stellen uns wie Ketzern nach – ach Gott … du wirst einmal aufwachen!“ (Nr. 2cde und Nr.3)
· Das „Ich“ kennt die Versuchung durch Korruption. Judas wird durch das Geldversprechen der Hohenpriester zum Verrat verführt. Das „Ich“ bittet Gott um Bewahrung davor: „Mir hat die Welt trüglich gericht’t … viel Netz und heimlich Stricke. Herr nimm mein wahr … B’hüt mich vor falschen Tücken“ (Nr 4c und Nr. 5)
· Das „Ich“ leidet unter der Zumutung, die „Sache Jesu“ zu verraten. Auf Jesu Ankündigung seines Verrats und die Nachfrage der Jünger „Bin ichs“? folgt die ehrliche, ernüchternde und doch zugleich befreiende Einsicht: „Ich, ich und meine Sünden, die haben dir erreget, das Unheil, das dich schläget.“ (Nr. 6fgh und Nr.7)
· Das „Ich“ weiß um die Gefahr, „vor der Verantwortung für eigenes und fremdes Leben wegzulaufen “ Jesus kündigt an, dass nach seiner Verhaftung „die Schafe – also die Jünger – sich zerstreuen“. Angesichts dieser Aussage mahnt der Choralvers den Menschen, sich nicht nur im Tagestrott gehen zu lassen, sondern sein Leben täglich vor Gott verantwortlich zu gestalten: „Wach auf, o Mensch vom Sündenschlaf! … Bessre bald dein Leben … Vielleicht ist heut‘ der letzte Tag. Wer weiß noch, wie man sterben mag.“ (Nr. 10b und Nr. 11)
· Dem „Ich“ widerfahren Dinge und Erlebnisse, die es schwer mit Gott vereinbaren und als Gottes Wille deuten kann. Jesu Kampf mit Gott in Gethsemane endet mit der Bereitschaft, sich in Gottes Willen zu fügen. Solches erbittet das „Ich“ mit dem Choralvers von Johann Herrmann Schein: „Mach’s mit mir Gott, nach deiner Güt, hilf mir in meinem Leiden! … Ist alles gut, wenn gut das End!“. (Nr. 14b und Nr. 15)
· Das „Ich“ kennt die Scham und das Erschrecken über eigenes Unvermögen und Fehlverhalten. Petrus fängt nach der Verleugnung Jesu an zu weinen. Mit ihm stimmt das „Ich“ in den Choralvers ein „Herr, ich habe mißgehandelt. … ich bin nicht den Weg gewandelt, den du mir gezeigt hast. Und jetzt wollt ich gern aus Schrecken, mich für deinem Zorn verstecken“. (Nr. 31k und Nr. 32)
· Das „Ich“ kennt die Tatsache, dass einem Menschen am Ende „auch noch das letzte Hemd“ genommen wird. Nach der Verlosung der Kleider Jesu unter dem Kreuz wird das „Ich“ mit dem letzten Vers aus Martin Luthers Reformationslied „Ein feste Burg“ getröstet und gestärkt: „Nehmen sie uns den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, lass fahren dahin, sie haben’s kein Gewinn. Das Reich Gott’s[9] muss uns bleiben“. (Nr. 37 und Nr. 38)
· Das „Ich“ kennt die quälende Frage „Warum“ und die Erfahrung, von Gott (und allen guten Geistern?) verlassen zu sein. Wie Jesus am Kreuz erhält es die tröstende (für manche nur vertröstende und „billige“?) Antwort: „Keinen hat Gott verlassen, der ihm vertraut allzeit. … Gott will die Seinen schützen … Und geben, was ihn’n nützet, hie zeitlich und auch dort“ (Nr. 39g und Nr. 40)
Die Arien vermitteln in ihrem betrachtenden, kontemplativen Charakter den Glaubenden ebenfalls Trost.
Auf die Einsetzungsworte des Abendmahls durch Jesus antwortet die Altstimme in einer Arie: „Mein Heiland, dich vergess ich nicht, ich … habe deinen Leib und Blut genossen und meinen Trost (!) auf dich gericht“ (Nr. 9).
Nachdenklich wird der Judaskuss, das Symbol einer heuchlerischen Geste, „als Gift für die frommen Seelen( Nr.19) “ beschrieben.
Das Schreien des Volkes „Kreuzige ihn!“ wird vom Tenor als „angenehmes Mordgeschrei“ vernommen, „damit mir Kreuz und Leiden sanfte zu ertragen sei! (Nr. 34)“
Nach Jesu lautem Schrei am Kreuz und seinem Sterben verkündet eine Sopranarie in universaler Reichweite den Sündern, „dass das Eden“ – also das Paradies – aufgebaut sei, „welches wir zuvor verloren“ (Nr. 42).
So zieht sich der Trostgedanke durch das gesamte Libretto der Markuspassion. Anders als in den beiden anderen Passionen Bachs sind hier die Skrupellosigkeit und Unmenschlichkeit sowie die Schmerzen und das Leid Jesu in der Passion nicht so stark ausgeprägt. Ebenso wird die Erlösungsbedürftigkeit der Menschen aufgrund ihrer Sünden weniger herausgestellt.
Ob und inwiefern hier die Vorlage der Passionsgeschichte des Evangelisten Markus und seiner Schilderung Jesu als stellvertretend leidender Gerechter und in diesem Sinne als Gottessohn eingewirkt hat, muss offenbleiben.
4. Die musikalische Zubereitung von Andreas Fischer in enger Anlehnung an Werke J.S. Bachs unter Verwendung des Parodieverfahrens [10]
Andreas Fischer schließt sich mit seiner Rekonstruktion in Grundzügen der seit 1921 von den meisten Bach-Forschern (Ausnahme: Ton Koopman) vertretenen Meinung an, dass Eingangs- und Schlusschor sowie drei Arien[11] der Markuspassion als Parodie der Trauerode „Lass, Fürstin, lass noch einen Strahl“ (BWV 198) von Bach komponiert wurde. Diese Trauerode wurde am 11. Oktober 1727 knapp einen Monat nach dem Tod von Fürstin Christiane Eberhardine von Sachsen, der Ehefrau August des Starken, zu deren Ehren in Leipzig aufgeführt.[12]. In der Besetzung für 4 Solostimmen (Sopran, Alt, Tenor und Bass), 4-stimmigen Chor sowie Orchester (2 Oboen resp. Oboen d’amore, 2 Violinen, 2 Viola da gamba, 2 Lauten und Basso continuo) stimmt sie mit der Besetzung der Markuspassion überein, die in einer Auflistung 1763 im Breitkopf-Verlag in Leipzig überliefert ist.[13]
Eingangs- und Schlusschor der Trauerode und der Markuspassion haben textlich dasselbe Reimschema, den jambischen Tetrameter, und dieselbe Anzahl von Silben je Zeile.[14]
Konsequenterweise übernimmt Fischer in seiner Rekonstruktion auch die Tonart dieser beiden Chöre: h-moll.
Die Musik für drei Arien entnimmt Fischer ebenfalls der Trauerode.[15] Er schließt sich bei der Arie Nr. 19 „Falsche Welt, dein schmeichelnd Küssen“ der Mehrzahl der Forscher seit Smend an und nimmt als Parodievorlage den ersten Satz der Kantate „Widerstehe doch der Sünde“ (BWV 54). Auch hier stimmen die Reimvorlage, ein trochäischer Tetrameter, sowie Silbenzahl pro Zeile überein.[16]
Bei zwei der vier restlichen Arien nimmt Fischer bereits gemachte (allerdings nicht konsensfähige) Vorschläge auf.[17] Für die beiden anderen stellt Fischer „neue Lösungswege zur Diskussion“[18]. Hierbei ist besonders sein Vorschlag für die Arie „Angenehmes Mordgeschrei“ (Nr. 34) interessant. Ein Großteil der Forscher hatte für diese Arie keine passende Parodievorlage gefunden. In vielen Aufführungen wurde sie deshalb weggelassen.[19] Fischer schlägt die Arie aus BWV 179, 3 „Falscher Heuchler Ebenbild“ vor.
Für die Choräle findet Fischer in Übereinstimmung mit den meisten Gelehrten „problemlos Zuordnungen aus den erhaltenen Choralsammlungen“[20] Bachs. In den meisten Fällen nimmt Fischer hier die Empfehlungen von Friedrich Smend auf.[21]
In den Rekonstruktionsversuchen wurden die Rezitative ganz verschieden bewertet und gestaltet. Sie wurden entweder nur vorgelesen, einer anonymen Markuspassion von 1707 entnommen[22], neu komponiert oder an die Rezitative der Matthäuspassion angepasst. Andreas Fischer geht einen anderen Weg. Er sucht Teile von Rezitativen aus anderen Werken Bachs, die von der Textverteilung und Stimmungslage her zu den zu rezitierenden Texten passen – selbst wenn diese aus Bachkompositionen nach 1731 (der Erstaufführung der Markuspassion) stammen. Zusätzlich lockert er lange secco-Rezitativsequenzen auf, indem er die Jesusworte – in Entsprechung zum „Heiligenschein der Jesusworte“ in Bachs Matthäuspassion – als Accompagnati einflicht.
Ziel von Fischers Ergänzung ist, „eine weitgehende Annäherung an Bachs Personalstil durch ausschließlichen Rückgriff auf seine eigenen Kompositionen (ausgenommen die Matthäuspassion) zu erreichen und damit der bisher vermissten qualitativen und stilistischen Einheitlichkeit des Gesamtwerks ein Stück näher zu kommen.“[23] Deshalb kann und wird sich der Zuhörer dieser Aufführung der Markuspassion an manchen Stellen überrascht fragen: „Habe ich das nicht schon mal gehört? Passt diese Melodie und instrumentale Umsetzung überhaupt in eine Passion? Muss der Text denn nicht heißen ‚Wo, wo, wo. Wo ist der neugeborene König der Jüden?‘ – bekannt aus dem Weihnachtsoratorium – und nicht ‚Pfui, Pfui‘ bzw. ‚Er hat andern geholfen‘? Höre ich in der Passion wirklich richtig ‚Ja nicht auf das Fest‘ oder wird da nicht ‚Omnes, omnes, omnes generationes‘ aus dem Magnificat gesungen? Die anderen von Fischer für die Turbachöre ausgewählten Parodievorlagen verstärken diesen Eindruck. Als Vorlage für den Chor „Was soll doch dieser Unrat“ nimmt er eine Sequenz aus dem 1. Satz der Kantate „Aus der Tiefen“ BWV 131 zu den Worten „Herr, erhöre meine Stimme“. Neue, eigene Wege schlägt Fischer ein, wenn er die beiden Chöre „Kreuzige ihn“ (Nr. 33l und 33p) nicht wie andere mit dem Satz „Ehre sei Gott in der Höhe“ aus dem Weihnachtsoratorium unterlegt, sondern mit dem Kantatensatz BWV 44,2 (aus: „Sie werden euch in den Bann tun“), „dessen kurzer Text dreimal hintereinander auf ähnliche Weise vertont und durch seine einzigartig dramatische Harmonik auf dem Wort ‚tötet‘, bestens geeignet war für die beiden ‚Kreuzige‘- und den ‚Weissage-Chor“[24] (Nummern 33l und 33 p sowie Nummer 29h). Zweimal bedient sich Fischer aus dem 1. Satz der Kantate BWV 105 „Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht“: den Beginn derselben für den Chor „Siehe, er rufet den Elias“ (Nr. 41d) und das folgende Motiv für den Spottchor „Gegrüßet seist du, der Jüden König“ (Nr. 35b). Da Fischer den Evangelientext immer dann in Turbachören rezitieren lässt, wenn mehrere Personen sprechen, trennt er konsequenterweise die Aussage etlicher falscher Zeugen „Wir haben gehöret…“ aus dem Rezitativ des Tenors heraus und formt daraus einen Turbachor mit Fuge aus der Kantate BWV 40,1 „Dazu ist erschienen der Sohn Gottes“.[25]
Fast folkloristisch mutet die Gestaltung der Szene im Hof des Hohenpriesters an, als die dort Anwesenden Petrus mit der Aussage konfrontierten: „Wahrlich, du bist der einer, denn du bist ein Galiläer.“ Fischer unterlegt diese Aussage mit dem Schlusssatz der Glückwunschkantate „„Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten“ (BWV 207) zur Antrittsvorlesung des Juraprofessors Dr. Gottlieb Kortte am 11. Dezember 1726[26].
Eine letzte Reminiszenz an die Trauerode als grundlegende Parodievorlage für die Markuspassion bietet Fischer, wenn er die Jüngerfrage an Jesus „Wo willst du, dass wir hingehn und bereiten“ (das Passamahl! – Nr. 6b) mit Musik aus deren 7. Teil unterlegt.[27]
Insgesamt enthält die Fassung von Andreas Fischer so 12 Turbachöre, „die ein schönes Äquivalent zu den 24 madrigalen Stücken (1731) bzw. 12 Evangelienperikopen (1744) ergeben.“[28]
5. Hörerlebnisse – Theologie, Spiritualität und Musik
Entsprechend dem vom Libretto vorgegebenen Charakter einer tröstlichen Musik fehlt in der Markuspassion die „Schwere und Dramatik“ der Johannespassion und die „Tiefe“ der Matthäuspassion.
a)
Der Eingangschor Nr 1 klingt „ rhythmisch sehr akzentuiert… und … eigentlich überhaupt nicht trauernd oder zerknirscht, sondern eher freudig-erwartungsvoll“[29]. So singt der Chor singt analog zur Orchestrierung statt gebundener Sechszehntel-Sequenzen immer punktierte Sechszehntel mit folgenden zweiundreißigstel – auch wenn dies im Klavierauszug so nicht erkennbar ist. Die existentielle Erfahrung, dass Trost, wenn er keine billige Vertröstung ist, meistens nicht schnell eintritt, sondern ein Aus- und Durchhalten erfordert, zeigt sich in den Takten 33-35 bzw. den Schlusstakten 65-69: Sopran, Alt und Tenor halten hier vier Viertel und eine Achtel das Wort „sein“ aus, während der Bass mit zweimaligen Einwürfen „bis mir“ um das Wort Trost „kämpft“. (>>Hörbeispiel )
Das orchestrale Zwischenspiel von Takt 39 bis 42 verstärkt dieses.
b) Das Murren bei der Salbung Jesu „Was soll doch dieser Unrat“ Nr. 2d
Wer schon einmal die Bach-Kantate „Aus der Tiefen“ BWV 131 mit seiner eindringlichen Bitte und dem tiefgreifenden Flehen gehört hat, vernimmt statt der Worte „Herr, erhöre meine Stimme, lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens“ erstaunt den empörenden Ausruf murrender Leute: „Was soll doch dieser Unrat“ eine unglaubliche Kombination, die sich noch verstärkt, wenn die empörenden Worte „verkauft“ mehrfach wiederholt mit der musikalischen Lautmalerei des Flehens „Fle-he, fle-he“ in der Kantate zu Gehör gebracht werden. Ist die Empörung vielleicht schon im Flehen enthalten, so dass sie – allerdings in umgekehrter Richtung – aus dem Flehen der Kantate übernommen werden konnte?
c) Gethsemane-Szene, besonders die Nr. 12g – Nr.16
Die Choräle Nr.13 „Betrübtes Herz sei wohlgemut“ und Nr. 15 „Machs mit mir Gott nach deiner Güt“ spiegeln die Stimmungslage in Gethsemane wider, wenn der Sopran (durchgehend) und der Tenor (im zweiten Choral) in einer für sie ungewöhnlich tiefen Tonlage singen[30]. Im accompagnato-Rezitativ Nr. 14b lässt das Staccato in den Achteln der Streicherbegleitung durchgehend das Zittern und Zagen Jesu spürbar werden.
Bei der Einwilligung in Gottes Wille geht die Bassstimme Jesu in gebundene Viertel über.
In Rezitativ 16b wird die Aufforderung Jesu „Wachet“ durch kurze aufrüttelnde Triolen der Streicher in D-Dur spürbar, während das „Beten“ durch einen lang ausgehalten sich in A-Dur auflösenden Akkord zeigt.
d) Die Aussage der falschen Zeugen: Wir haben gehöret Nr. 25b
Andreas Fischer hat sehr gut als Parodievorlage den Eingangschor der Kantate „Dazu ist erschienen der Sohn Gottes“ BWV 40 gewählt. Dort erklingt „dass er (sc. Der Sohn Gottes) die Werke des Teufels zerstöre“ statt „Ich will den Tempel, der mit Händen gemacht ist, abbrechen“. Selbstverständlich verbietet sich hier die Assoziation, als wäre der Tempel ein Werk des Teufels von vornherein. Allerdings ist das musikalische Motiv der Zerstörung mit „hämmernden Achtel- und Sechszehnteln im Wechsel“ sehr stimmig. Die „Falschheit“, Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit der Zeugen vor dem hohen Rat zeigt sich nicht nur im „Gegeneinander“ der Chorstimmen in der großartigen Fugenkomposition ab Takt 39 sondern schon in den Takten 28 bis 33. Zweitaktweise stimmen jeweils 3 Stimmgruppen überein, während die vierte „verspätet“ ihre Zeugenaussage vorbringt. In Takt 27b-30a singen Sopran, Alt und Tenor harmonisch miteinander, in Takt 30-31 Alt, Tenor und Bass, in Takt 31 wieder Sopran, Alt und Tenor, dann in Takt 32 Sopran, Tenor und Bass. Ab Takt 33 stimmen dann 2 Takte lang wieder