1. Einleitung: Chaos und Ordnung
2. Das „alte“ Paradigma: Der „Laplace-Dämon“
3. Die Erschütterung : Beispiele und Erklärungsmuster für Chaos in der Natur
3.1 Wetterprognose
3.2 Gaskonvektion
3.3 Wasserrad und Lorenz Attraktor
3.4 Populationen
3.5 Logistische Differentialgleichung : Chaos macht jeden Computer nieder
3.6. Bifurkationen und Periodenverdoppelung: Ordnung im Chaos
3.7 Fraktale Geometrie
3.8 Das kreative Chaos: Selbstorganisation
4. Das neue Paradigma: Grundsätze der Chaostheorie
5. Wertungen
4.1 Warum gerade heute ein neues Paradigma „Chaostheorie“ ?
4.2 Versuch einer theologischen Einordnung und Reflexion
Vortrag bei RT Nürtingen 1.12.92
1. EINLEITUNG: Chaos und Ordnung: Chaostheorie als neues Paradigma in den Wissenschaften
Was ist Chaos? Allgemein würde man wohl antworten: „Chaos ist das Gegenteil von Ordnung!“
Darin liegt schon ein Stück Wahrheit. Wenn wir beispielsweise sagen, ein Zimmer ist in Ordnung, dann meinen wir: Es ist aufgeräumt. Alles ist an seinem Platz. Wir wissen, wo das jeweilige Ding sich befindet (steht bzw. liegt). Wir können jederzeit darauf zugreifen. Wir wissen in der Regel, wie es dorthin gekommen ist (wenn wir nur genauere Nachforschungen anstellen!). Wir können einem anderen sagen, wo er das jeweilige Ding finden kann und was er damit anstellen kann.(Beispiel: Küchenmaschine im Schrank einer Küche!)
Kurzum: Alles ist eben „in Ordnung“.
Im Chaos dagegen liegt alles durcheinander bzw. gerät durcheinander. Man kann nichts mehr richtig finden. Manchmal findet sich selbst der nicht mehr zurecht, der das Chaos angerichtet hat.
Alles ist „durchmischt“ Jedes Ding findet sich zufällig irgendwo wieder.
Die Frage stellt sich nun, ob, inwiefern und wo in der Natur Ordnung oder Chaos herrscht.
Zunächst nimmt ein aufgeklärter neuzeitlichen Mensch ja an, in den Naturprozessen laufe alles in geregelten Bahnen ab- vielleicht aufgrund einer Schöpfung oder einer allumfassenden Naturordnung- , kurz hier sei alles „in Ordnung“. Nicht umsonst spricht man ja von Naturgesetzen. Bis vor knapp 20 Jahren war dies eine Art common sense in den Naturwissenschaften. Doch mittlerweile ist das Chaos in der Natur ins Blickfeld der Forschung gerückt.
Am trefflichsten vergleicht man das Chaos in der Natur mit einem Verkehrschaos.
Etwa mit einem Knäuel von Fahrzeugen auf einer Kreuzung. Dabei ist doch jedes einzelne Fahrzeug aufgrund strenger Gesetzmäßigkeiten an seinen Platz im Verkehrsknäuel gelangt. Trotzdem erscheint aber das Verkehrschaos dem Betrachter als etwas völlig Wirres, bei dem die Positionen der einzelnen Fahrzeuge wie zufällig verteilt erscheinen. Ein LKW neben einem blauen PKW, quer dazu ein roter PKW, dahinter ein Motorrad usw. Der einzige Unterschied zum Chaos bei Naturvorgängen besteht darin, daß bei letzteren – bildlich gesprochen – obendrein noch die Fahrzeuge alle in Bewegung sind und ständig ihre ineinander verkeilten Positionen ändern.
Chaos in dieser bewegten Art erscheint heute als ein typisches Verhaltensmuster vieler komplexer Systeme. Dazu hat sich eine ganz neue Art des Forschens, eine neue Art, Naturwissenschaft , ja Wissenschaft allgemein! – zu betreiben, herausgebildet und im Wissenschaftsgefüge etabliert – wenn nicht ganz, so doch schon relativ sicher!.
Man spricht in diesem Zusammenhang gern von einem „Paradigmenwechsel“ im Wissenschaftsgefüge. Es wird dabei eine ganze Konstellation von Überzeugungen, Werten, Verfahrensweisen und so weiter über Bord geworfen, die bisher ausgesprochen oder unausgesprochen von allen an der Wissenschaft Beteiligten geteilt wurden. Der Wandlungsprozeß ähnelt der Umgestaltung eines ganzen Industriezweigs, der sich für eine neue Produktion rüstet.
Interessant ist die Chaostheorie als neues Paradigma von Wissenschaft nicht zuletzt deshalb, weil in ihr neue, von bisherigen physikalischen Ansätzen nicht vorhergesehene Verhaltensweisen erfaßt werden können. So kann beispielsweise anerkannt und erklärt werden, daß komplexe Systeme unvermittelt und spontan einen Sprung zu verwickelteren Formen machen können. Der Fachausdruck hierfür lautet: „Selbstorganisation„. Wie und warum diese Selbstorganisation möglich wird, werde ich nachher an einigen Beispielen deutlich machen.
Damit uns der „Einschnitt“ und „Umbruch“, der sich durch die Chaostheorie im naturwissenschaftlichen Denken vollzieht, wirklich deutlich wird, also der Paradigmenwechsel, müssen wir uns zunächst das alte, den meisten wohlvertraute Paradigma nochmals kurz vergegenwärtigen.
2. Das alte Paradigma: Der „Laplace-Dämon“
Dieses Paradigma beinhaltet kurz und knapp die Vorstellung bzw. den Traum, daß bei genügender Anstrengung und bei fortschreitender Erkenntnis letztlich alles berechenbar, vorhersehbar und damit beherrschbar sein würde. Die von Newton aufgestellten Naturgesetze und noch einige weitere andere wären dazu ausreichend.
Präzise zusammengefaßt wurde diese Ansicht von dem großen französischen Mathematiker und Physiker Pierre Laplace. Seine Aussage – auf der Folie hier noch graphisch verständlich graphisch aufbereitet- lautet:
FOLIE 1
Wenn man also alle Ausgangsbedingungen (d.h. auch die der kleinsten Teile, z.B. Atome) hinsichtlich Lage bzw. Raum, Zeit und Geschwindigkeit erfaßt und dazu noch einen Rechner in geeigneter Größenordnung hat, kann man sowohl die Zukunft als auch die Vergangenheit von Dingen sicher errechnen.
Nehmen wir als Beispiel ein Staubkörnchen hier im Raum. Kenne ich sein Gewicht, die Luftbewegung im Raum zu jeder Zeit, dazu noch die anderen Bewegungen von Dingen oder Menschen, die hier ablaufen bzw. abgelaufen sind und noch einiges andere mehr, so könnte ich mit einem entsprechenden Computer ausrechnen, wo dieses Körnchen heute nachmittag um 16 Uhr oder gestern früh gelegen ist. Ich könnte auch vorherberechnen, wo es morgen früh um 7 Uhr liegt, wenn sich im Raum nichts Größeres mehr ereignen würde, wenn also die Tür geschlossen bliebe und nur eine geringe, gewöhnliche Luftbewegung herrschen würde.
Bestimmte kleinere Faktoren könnte ich dabei von vornherein bei der Berechnung zur Vereinfachung auslassen, z.B. wie stark wir morgen früh beim Aufstehen ausatmen, die Abgase unseres Autos auf dem Weg zur Arbeit usw. Sie spielen gewiß im Gesamtsystem eine Rolle, aber als kleine Einflüsse haben sie eben nur kleine, vernachlässigbare Wirkungen auf das Staubkorn. Bei den Näherungswerten, die wir machen müssen, – vielleicht geben wir die Lage des Staubkornes noch in mm genau an! – spielen sie dann erst recht keine Rolle mehr.
„Ein annähernd genauer Input erzeugt einen annähernd genauen Output!“
Verallgemeinernd kann man somit folgende Merkmale des Laplaceschen bzw. Newtonschen Paradigmas angeben:
1. Aus einem bestimmten Systemzustand läßt sich eindeutig jeder weitere Zustand errechnen.
2. Die Vorgänge sind reversibel, d.h. man kann mit den gleichen Gesetzen in die Vergangenheit wie in die Zukunft schauen.
3. Komplexes ist aus der Wiederholung zahlreicher Gesetzesanwendungen entstanden. Es enthält nichts wesentlich Neues. Die analytische Methode erreicht die Zerlegung des Komplexes in seine Einzelteile, deren Summe das Ganze ist. (vgl. Staubkornberechnung durch Zusammensetzung der verschiedenen „Wirkungen“)
4. Höhere Organisation entsteht durch „Aufwärtsverursachung“, d.h. sie kann auf die Wirkungen ihrer Teile reduziert werden. (Reduktionismus) (vgl. Staubkornansammlung oder Vergrößerung oder gar ein Staubkornmuster kann durch andere einzelne Staubkörner und deren Berechnung erklärt werden!)
5 .In allen monokausalen Vorgängen bedingen kleine Änderungen in den Anfangsbedingungen kleine Auswirkungen; denn ähnliche Ursachen haben ähnliche Wirkungen („Prinzip der starken Kausalität“)
6. Der Kosmos ist in jeder Hinsicht determiniert und berechenbar. Es gibt keinen Zufall.
Noch eine theologische und philosophische Frage zu diesem Paradigma:
Wo kommt hier Gott vor? Vielleicht wird ihm wie im Deismus noch eine Chance als eine Art „Uhrmacher“ gegeben, der die Weltenuhr einmal in Gang gesetzt hat, sie dann aber ihrem Schicksal überlassen muß. Oder -so die Meinung bzw. der Verdacht vieler Wissenschaftlicher seit fast 200 Jahren: Er hat keinen Platz mehr!
„Sire, diese Hypothese benötige ich nicht!“ antwortete Laplace auf die Frage Napoleons, wo in seinem System denn Gott vorkomme.
Und wie steht es mit dem Menschen in diesem Ansatz?
Für ihn – also für uns alle – beinhaltet diese streng naturwissenschaftliche Vorstellung nichts Schmeichelhaftes: Der Mensch besitzt hier keine Willensfreiheit. Alles ist determiniert! Sogar menschliches Eingreifen in den Geschehensablauf läßt sich nach dieser Ansicht letztlich physikalisch erklären! Für Zufall bleibt kein Raum. Die Spannung zwischen „Freiheit und Notwendigkeit“ ist einseitig zugunsten der letzteren entschieden.
Ich denke, wir alle, vielleicht mit Ausnahme der Frauen!,
Kommentar (per Mail!) von M. Rubens:
Aber eine Anmerkung möchte ich mir doch zu Ihrer HP erlauben: Warum kann
das Laplacesche Paradigma nicht auf Frauen ebenso eine Faszination ausüben
wie auf Männer? Meinen Sie, Frauen kennen nicht die Faszination des Gefühls,
Dinge oder Vorgänge beherrschen bzw. zumindest erklären zu können?
Sicher, es gibt sowohl unter den Männern als auch unter den Frauen
„mathematische Dilettanten“, für die die Begriffe Ordnung und Chaos Hiroglyphen
sind, mit denen sich heute keiner ausser ein paar Freaks mehr beschäftigen
muss. Aber ebenso gibt es sowohl Männer als auch Frauen, die fasziniert sind von
mathematischem Denken, von Ordnung, Logik und Erklärungen. Meiner Meinung
nach ist das eine Frage des Charakters, evl. auch noch der Erziehung, aber
keine Frage des Geschlechts.
Die Verbindung von Sinn für Ordnung, Logik und Erklärbarkeit mit dem
Geschlecht halte ich für ein antikes Vorurteil!
Kann ich nur zustimmen! G. Kolb
kennen die Faszination dieses Laplace`schen Paradigmas, nach dem letztlich alles „erklärbar“, „beherrschbar“ und damit „machbar“ ist.
Doch – wie gesagt – dieses Paradigma ist durch die Chaostheorie in den Grundfesten ins Wanken gekommen.
Dazu jetzt einige Beispiele.
3. Die Erschütterung : Beispiele und Erklärungsmuster für Chaos in der Natur
Als einer der ersten, der auf die Spuren des Chaos kam, gilt der Metereologe Eward Lorenz. Im Jahre 1963 experimentierte er „mit einem Computerprogramm, das die Entwicklung einer bestimmten Wetterlage simulieren sollte. Er hatte dem Computer die wichtigsten Daten (wie Temperatur und Luftdruck) eingegeben, dazu die Gleichungen, nach denen sich das Wetter entwickeln sollte. Der Computer rechnete. Die neuen Daten zeigten immer mehr Stellen hinter dem Komma, so daß der Computer sie nicht mehr fassen konnte. Lorenz unterbrach das Programm, ging in der berechneten Entwicklung zurück und setzte noch einmal neu an, diesmal mit abgerundeten Daten. Dann ging er eine Tasse Kaffee trinken.
Als er dann zurückkam, war der Computer gerade wieder so weit, wie er schon einmal gekommen war. Lorenz aber stutzte, denn die Ergebnisse waren diesmal ganz andere. Die Abrundung der Daten hatte dazu geführt, daß sich das berechnete Wetter schon nach kurzer Zeit völlig anders entwickelte. Neue Experimente bestätigten das Ergebnis. Lorenz merkte, daß hier eine grundsätzliche Erkenntnis zu gewinnen war: Eine kleine Änderung der Ausgangsdaten, nur in der dritten Stelle hinter dem Komma, führt bei einem komplexen Programm dazu, daß binnen kurzem sich völlig andere Entwicklungen ergeben.
Gefunden war, locker formuliert, das Gesetz, daß kleine Ursachen große Wirkungen haben.“
Der Fachausdruck hierfür lautet: „sensitive Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen„. Populär wurde dies unter dem Namen „Schmetterlingseffekt„. Demnach ist es möglich, daß ein Schmetterlingsschlag in China einen Hurrikan in der Karibik auslösen kann.
Offensichtlich sind solche Effekte bei Systemen möglich, die niemals zum Stillstand kommen, bei Systemen, in denen Fließgleichgewichte entstehen können. Man nennt solche Systeme mit dem Fachwort „dissipative Systeme“.
Chaotische Erscheinungen treten auch bei jeder Luftbewegung auf. Z. B. bei der Gaskonvektion. Wir kennen es ja vielleicht aus eigener Erfahrung, daß es in einem Raum „zieht“, obwohl keine Fenster geöffnet sind.
Im Versuch wird statt Luft Gas verwendet. In der sog. „Benar-Konvektion“ stellt sich dieses Phänomen so dar:
FOLIE 3 (Haken s.46 4.7 + Gleick S. 42 + Haken S. 52 4.19)
In einem Behälter mit einem heizbaren Boden und einem kühlbaren Deckel befindet sich Flüssigkeit. Bei geringer Temperaturdifferenz zwischen Boden und Deckel bleibt das System in Ruhe, ist also stabil. Erhöht man die Temperatur am Boden, entwickelt sich zunächst eine zylindrische Walze. An der einen Seite der Walze steigt heiße Flüssigkeit auf, an der anderen sinkt sie herab. Wird die Wärmezufuhr unten noch weiter verstärkt, setzt Instabilität ein. Es entstehen Turbulenzen, also Chaos. Das System ist dann so komplex, daß es sich nicht mehr mit einzelnen zusammengesetzten Gleichungen beschreiben und berechnen läßt.
Übringens hat man auch herausgefunden, daß in entsprechenden Anordnungen bei weiterer Erhitzung die Turbulenzen wieder verschwinden und eine andere Stabilität einsetzen kann. In einem zylinderförmigen Gefäß kommt es dann etwa zu Bienenwabenmuster. Aus Chaos kann wieder Ordnung entstehen!
Aber warum und wie kommt es nun zur Turbulenz, zum Chaos? Dies hängt wesentlich mit einer grundlegenden Eigenschaft solcher dissipativen Systeme zusammen: In solchen Systemen beeinflussen sich die physikalischen Prozesse wechselseitig. Es treten Rückkoppelungs- und Aufschaukelungsphänomene auf, die sich nicht mehr präzise erfassen lassen.
3.3 Wasserrad und Lorenz Attraktor
Zur rotierenden Kreisbewegung der Konvektion läßt sich eine mechanische Analogie finden, die sich bei entsprechenden Bedingungen chaotisch verhält: das sog. Lorenz`sche Wasserrad.
FOLIE 4 (Gleick S. 44)
Von oben fließt dabei ständig Wasser auf das Rad zu. Die Radschaufeln verlieren Wasser. Je nach Wasserzufuhr wird sich nun das System verhalten.
Fließt nur wenig Wasser zu, fängt es erst gar nicht an sich zu drehen, da die oberste Schaufel nie ausreichend volläuft, um die Reibung zu überwinden.
Bei wachsendem Zufluß wird das System in Gang gebracht (links) und kann sich auf eine kontinuierliche, stete Rotation einspielen.(Mitte). Was geschieht nun, wenn der Zufluß noch weiter erhöht wird? Nun: es kann zu einer Umkehrung der Drehung kommen, da die hochsteigenden Schaufeln durch die schnellere Drehgeschwindigkeit sich nicht mehr ganz leeren können. Die Drehbewegung verlangsamt sich und kehrt sich um. Aber wie geht es dann weiter? Wiederholt sich die Umkehrung der Drehbewegung?
Um dies zu untersuchen bedienen sich Physiker einer Möglichkeit, Zahlenwerte in Bilder umzuwandeln, den sog. „Phasenraum“.
„Im Phasenraum fällt der vollständige Wissensstand über ein dynamisches System zu einem gegebenen Augenblick in einem einzigen Punkt zusammen Dieser Punkt ist das dynamische System.“
Normalerweise wird in einem Schaubild der Wert einer Variablen zu einem bestimmten Zeitpunkt angegeben. Dann erhält man die gewöhnlichen Schaubilder von Kurven, Geraden, manchmal oszillierend wie bei einem EKG. Da jedoch bei dissipativen Systemen viele Variablen (= Bedingungen) hereinspielen und sich gegenseitig bedingen bzw. sogar miteinander rückgekoppelt sind, ist man dazu übergegangen, die Werte dieser Variablen zu einem bestimmten Zeitpunkt als Koordinaten eines Punktes in einem mehrdimensionalen Koordinatensystem aufzuzeichnen. Sobald sich das System verändert, bildet nun die Punktbewegung im Raum die sich kontinuierlich ändernden Variablen ab.
FOLIE 5 (Gleick S. 47)
Dabei sind zwei Bewegungsmöglichkeiten des Punktes eines Systems sofort einsichtig:
Entweder führt die Bahn dieses Punktes zu einem Ende, dann erreicht das System einen Stillstand, oder der Punkt kommt wieder an seinen Ausgangspunkt und wiederholt dieselbe Bewegung. Dann läuft das System periodisch ab.
Wenn nun beim Wasserrad ein (gleichbleibender) übermäßiger Zufluß einsetzt, dann kann es zwar zu einer Umkehrung der Drehbewegung kommen. Für normales physikalisches Empfinden ist dies jedoch nur eine momentane Erscheinung. Mit der Zeit – so denkt man – müßte sich das System auf einen stetigen Zustand einpendeln. Dieser müßte nicht unbedingt statisch sein, sondern könnte periodisch sein. Im Phasenraum müßte sich also eine Schleife bilden.
Doch dem ist nicht so. Es stellte sich keine Regelmäßigkeit ein. Das System wiederholt sich nie exakt, d.h. die Bahnkurve überschneidet sich nie, obwohl sie zugleich stets in einem gewissen Rahmen bleibt. So ergab sich für Lorenz folgendes Bild: Der sog. Lorenz Attraktor
Das Bild deutete auf Unordnung und Chaos, gleichzeitig aber auch auf eine neue Art von Ordnung hin.
Dieses Bild wurde zum Emblem der ersten Chaosforscher.
Nicht nur in Turbulenzvorgängen der Physik, sondern auch in der Populationsbiologie stieß man auf chaotische Phänomene.
Es ist klar, daß man Rückkoppelungsprozesse beachten muß, wenn man die Frage beantworten will, wie sich eine Population, z.B. die Zahl der Amöben in einer entsprechenden Kultur oder die Bevölkerung in einem begrenzten Gebiet, im Laufe der Zeit entwickelt. Der jeweilige Stand ist abhängig von der Geburtenrate, der Sterblichkeitsrate, den vorhanden Nahrungsmittelreserven. Und dies alles ist wechselseitig voneinander abhängig. Nimmt beispielsweise die Sterblichkeitsrate ab und die Geburtenrate zu, so verringern sich die Nahrungsmittelreserven und es kommt wieder zu einer Erhöhung der Sterblichkeit bzw. insgesamt einer Senkung der Population.
Um einen neuen Stand vorauszuberechnen brauche ich den vorgehenden. Dieser ist wieder abhängig vom vorigen. Zugleich kann ich aus dem letzten Stand $x_{ n} $ nicht mittels einer einfachen Formel d.h. auf lineare Weise den Ursprungsbestand $x_{ 0 }$ errechnen. Dazu muß ich Schritt für Schritt, also iterativ, vorgehen. Ebenso, wenn ich nach vorne in die Zukunft weiter rechnen will.
Als sogenannte „logistische Gleichung“ hat man herausgefunden $x_{ n+1 }\equiv r x_{ n }(1-x_{ n })$
Deutung: Die Populationsgröße zu einem Zeitpunkt $n+1$ ist gleich dem Produkt aus einer Konstanten r, der Populationsgröße vorher ( $x_{ n }$ zum Zeitpunkt $n$n) und einer Differenz von $1-x_{ n }$
Doch bei dieser recht präzisen und scheinbar einfachen mathematischen Formel bzw. Gleichung sollte sich das Chaos als wirksam erweisen! Je nach Wahl bzw. Angabe des Parameters r erweist sich die Gleichung als lösbar, d.h. die Population ist berechenbar. Bei anderer Wahl von r führt sie zu mehreren unterschiedlichen Lösungen. Ich möchte dieses „Chaos“ in der Mathematik ein wenig vorführen.
3.5 Logistische Differentialgleichung : Chaos macht jeden Computer nieder
Um die folgenden Rechenbeispiele richtig verstehen zu können und nicht durcheinanderzukommen, muß vorweggeschickt werden: die sog. logistische Gleichung $x_{ n+1 }\equiv r x_{ n }(1-x_{ n })$ läßt sich noch auf zwei andere mathematisch äquivalente Arten schreiben: z.B. als $p_{ n+1 }\equiv r p_{ n }(1-p_{ n })$ oder $x_{ n+1 }\equiv x_{ n }^{2 } + c$
Mathematisch äquivalent bedeutet dabei, daß sie durch geeignete Umformung und Ersetzung der Variablen ineinander übergeführt werden können. Übertragen gesprochen: Die x – Werte der 1. Gleichung können in einer anderen Skala als die p-Werte interpretiert werden. „Es ist wie wenn zwei Physiker in demselben Experiment die Temperatur messen, der eine in Grad Celsius und der andere in Grad Fahrenheit.“
Ein Problem dieser Gleichungen wird bei der Gleichung $x_{ n+1 }\equiv x_{ n }^{2 } + c$ sichtbar.
Bereits nach 4 Iterationen verdoppelt sich die Anzahl der Dezimalstellen. Exakte Ergebnisse sind danach kaum mehr erreichbar. Computer und Taschenrechner haben nur eine beschränkte Anzahl an Dezimalstellen zur Verfügung. Irrationale Zahlen jedoch haben unendlich viele verschiedene, nichtperiodische Dezimalstellen.
Diese kleinen Ungenauigkeiten, die man im klassischen Paradigma für vernachlässigbar hielt (was sind z.B. schon 10-15 mm?), können jedoch aufgrund des Schmetterlingseffekts gravierende Auswirkungen haben und große Differenzen in den Ergebnissen hervorrufen.
FOLIE 7 (Bausteine S. 62 Tab. 1.27)
Die Tabelle zeigt eine Simulation des Lorenz-Experiments für das Populationsmodell mittels der Gleichung $p_{ n+1 }\equiv r p_{ n }(1-p_{ n })$ , wobei $r=3$ und $p_{ 0 }\equiv 0,01$ gewählt wurde. In der linken Spalte wurde die Iteration ohne Stop auf einem CASIO fx-7000G Rechner durchgeführt. In der rechten Spalte wurde nach 10 Iterationen gestoppt und mit nur 3 Dezimalstellen ein Neustart vorgenommen. Deutlich sichtbar werden die Unterschiede zwischen beiden.
Aber es kommt noch schlimmer. „Chaos macht jeden Computer nieder!“ lautet die Überschrift in einem Buch.
Folgendes Rechenexperiment wird hier vorgeführt mittels der Formel $p_{ n+1 }\equiv p_{ n } +r p_{ n }(1-p_{ n })$
Als Ausgangswert wurde $p_{ 0 }\equiv 0,01$ gewählt und $r=3$.
Gerechnet wurde mit zwei verschiedenen Rechnern, einem CASIO fx7000G sowie einem HP-285, recht leistungsfähigen Rechnern. Die folgende Tabelle zeigt, daß bei der 50. Iteration die Werte vollständig voneinander abweichen.
FOLIE 8 (Bausteine S. 64 Tab. 1.28 + 1.29 sowie ev.1.31)
Die Unterschiede resultieren daher, daß der CASIO mit 10 Dezimalstellen, der HP dagegen mit 12 Dezimalstellen arbeitet.
Doch welcher Rechner hat nun das „richtige“ Ergebnis geliefert? Es ist gut möglich, daß beide falsche Ergebnisse liefern, weil ja auch den HP dieselbe „Krankheit“ (d.h. nicht ausreichend Dezimalstellen!) befallen wird wie den CASIO.
„Diese drastischen Auswirkungen sind die unvermeidbare Konsequenz einer Arithmetik von beschränkter Genauigkeit, welche dieselben Ergebnisse und dramatischen Auswirkungen auch auf Supercomputern der obersten Preisklasse hervorrufen würde.“
Doch das „Chaos“ geht noch weiter. Wenn wir nur einen Rechner, beispielsweise den CASIO benutzen und dieselbe Formel mittels auf zwei unterschiedlichen mathematisch jedoch gleichwertigen Berechnungsarten rechnen lassen, stellen sich ähnliche Ergebnisse ein.
Freilich stellt sich spätestens jetzt die Frage: Ist alles chaotisch? Kann man keinen Rechnungen mehr glauben?
Nun: Manche behaupten, in der Natur sei das Chaos eher die Regel als die Ausnahme. Daneben gibt es allerdings auch Berechnungen solcher Gleichungen, die aufgehen. Ausschlaggebend ist nicht das „Quadrat“ sondern vor allem auch der Parameter (r in der Gleichung $x_{ n+1 }\equiv r x_{ n }(1-x_{ n })$ oder $c$ in der Gleichung $x_{ n+1 }\equiv x_{ n }^{2 } + c$ bzw dem $r$ in der Gleichung $p_{ n+1 }\equiv p_{ n } +r p_{ n }(1-p_{ n })$
Bei entsprechender Wahl der Parameter kann es hin und wieder zu einem stabilen Endwert kommen, oder auch dazu, daß das Ergebnis zwischen zwei Werten hin- und herschwankt!
Folie 8`1 mit Tab 1.34 Bausteine S. 71
Doch gerade auf diesem interessanten Gebiet der Chaosforschung fand sich noch eine wichtige Überraschung.
3.6. Bifurkationen und Periodenverdoppelung: Ordnung im Chaos
Wir verwenden nun einfach die Gleichung $x_{ n+1 }\equiv r x_{ n }(1-x_{ n })$ und prüfen ihr Verhalten in Abhängigkeit vom Parameter r.
Man stellt fest, daß bei der Wahl von $r<1$ (also bei gewissen durch diese Konstante festgelegten Bedingungen!) – gleichgültig welchen Ausgangswert man wählt! – der Wert gegen Null strebt. In der Natur hieße dies einfach: „Das Nahrungsangebot der Insel oder eines Teiches ist zu dürftig, und es kommt zum Aussterben.“
Gleichung
$x_{ n+1 }\equiv r x_{ n }(1-x_{ n })$
$r<1$ : „Wachstum“ gegen Null; Aussterben
$1<r<3$ : Stabilisierung auf Wert $1-\frac{1 }{ r}$
$r=3$: zwei Werte; Periode zwei
$r>1+6$ :vier Werte Periode 4
$r<4$: beliebige unterschiedl. Werte: Chaos
manchmal periodische „Zwischenfenster“
Liegt der Parameter r in einem Bereich zwischen 1 und 3, so ändern sich zwar zunächst die Werte (sprich: Populationsgröße), pendeln sich sich aber letztlich auf einen Gleichgewichtswert von $1-\frac{1 }{ r}$ ein.
Wählt man r ein wenig größer als 3 springen die Werte mit einer Periode von zwei zwischen zwei festen Werten hin und her.
Bei einem Wert $r>1+6$ schwanken die Werte zwischen 4 festen Werten mit einer Periode von vier. Es hat also eine sog. Periodenverdoppelung stattgefunden. Im weiteren Verlauf finden sich weitere sogenannte „Bifurkationen“ (= Gabelungen“), die in immer kürzeren Abständen erfolgen
FOLIE 9 (Davies s. 66 Abb.12)
Bei r= 4 wirkt dann alles nur noch chaotisch. Es entstehen ganz willkürliche Schwankungen der Werte.
Doch zwischen den chaotischen Bereichen finden sich häufig auch „Fenster“ von periodischem oder nahezu periodischem Verhalten.
Graphisch läßt sich dies auch sehr schön anschaulich machen:
FOLIE 9 unten (Gleick S. 115/16)
Interessant hierbei ist, daß bei Vergrößerung der Segmente diese Einzelteile dem Gesamtdiagramm ähnlich sind. Im Chaos herrscht also „eine Ordnung“ bzw. in ihm kann sich eine Ordnung herausbilden.
Dies hat der Physiker Mitchel Feigenbaum noch präzisiert. Er stellte fest, daß die Periodenverdoppelungen nicht nur immer schneller erfolgen, sondern nach einem bestimmten Maß. Durchgehend ist Lücke (waagrecht!) zwischen zwei Zweigen jeweils etwas kleiner als 1/4 der vorigen Lücke. Die Lücke (senkrecht) zwischen einzelnen Zweigen beträgt bei Annäherung an die kritische chaotische Region etwa 2/5 der vorigen.
(an Folien verdeutlichen).
Die konkreten Werte der Nenner dieser Brüche sind die berühmten „Feigenbaum-Zahlen“: 4,6692016090… und 2,5029…. Es handelt sich dabei um irrationale Zahlen, die sich nicht aus bisher bekannten in der Natur vorkommenden irrationalen Zahlen wie z.B. oder e herleiten lassen.
Feigenbaum hielt sich jedoch nicht nur bei der relativ einfachen logistischen Populationsgleichung auf. Die Bewegungen von anderen Fließbewegungen wie z.B. Pendel, elektronische Oszillatoren oder Turbulenzen waren ja durch wesentlich schwierigere Gleichungen als durch die logistische Gleichung oder den Lorenz-Attraktor zu beschreiben.
So rechnete Feigenbaum die Werte für die Periodenverdoppelungen und Bifurkationen dieser anderen Gleichungen aus. Und er fand haarscharf dieselben Regelmäßigkeiten. Die Regelmäßigkeit war also jenseits der jeweiligen Grundgleichung zu finden.
Die komplizierten und unterschiedlichen Attraktoren im Phasenraum konnten aus den Periodenverdoppelungen und Bifurkationen erklärt werden.
Chaos und Ordnung trat unabhängig von der ursprünglichen Gleichung auf. Letztlich lassen sich Aussagen über chaotische Phänomene schon beim Betrachten der logistischen Gleichung machen. Damit ist erwiesen, wie leicht – durch Änderung des Parameters, d.h. durch kleine Änderungen der Bedingungen – aus Ordnung Chaos werden kann und aus Chaos auch Ordnung entstehen kann. In diesem Zusammenhang spricht man von „Selbstorganisation“ offener Systeme. Entscheidend ist freilich, daß sich diese Übergänge von Chaos zu Ordnung (und umgekehrt) nie genau voraussagen lassen, da man die Anfangsbedingungen nie genau angeben kann! (Irrationale Zahlen, an denen selbst der beste Supercomputer scheitert!)
Was Feigenbaum bei den Bifurkationen herausgefunden hatte, daß sich nämlich Zweige immer nach demselben Maß bildeten, daß bei Vergrößerungen der Bifurkationen immer wieder dieselben Muster sich einstellen, wurde in anderer Weise durch eine neue Geometrie ergänzt. Diese neue Geometrie – fraktale Geometrie genannt – erwies sich als geeignete Weise der Beschreibung von komplexen Naturvorgängen.
Die klassische euklidische Geometrie mit ihren „idealen“ Figuren wie Kreis, Quadrat, Gerade usw. versagt ja vor den vielfältigen Mustern und Formen der Natur. Selbst wenn man eine von Schülerhand mit dem Geodreieck gezeichnete Gerade unter einem starken Mikroskop anschauen würde, würde man keine Gerade mehr erkennen, sondern einzelne Krümmungen oder Zacken, hervorgerufen durch die Bleistiftstärke.
Ein Mathematiker unserer Zeit, Benoit Mandelbrot, der aus Polen stammt und bei IBM in den USA arbeitete, hat dieses Problem wohl als erster erkannt. Er versuchte u.a. die Frage zu beantworten: „Wie lang ist die Küste Englands?“
Er gab darauf die sonderbare, fast spleenige Antwort: Die Küste Englands ist, wenn man nur unendlich genau nachmißt, auch unendlich lang. Es kommt nur auf den Maßstab unseres Meßgerätes an. Je kleiner ich den Maßstab mache, desto mehr Zerklüftungen kann ich ausmessen und damit erhöht sich automatisch die Länge der Küste!
Außerdem bleibt jedoch die „Struktur“ dieser Küste gleich unabhängig vom Maßstab. Je größer ich auch den Maßstab mache, es treten immer wieder dieselben Muster auf.
FOLIE 10 (Gleick S. 142 oder eine andere fraktale Küste bei Bausteine Mittelteil Tafel 8)
Damit war das Problem gegeben: In einer begrenzten Fläche (zweidimensional) gibt es offensichtlich eine unendlich lange Linien, die über bestimmte Maßstäbe hinweg einen konstanten Grad der Unregelmäßigkeit haben.
Bei der Lösung dieses Problems schritt Mandelbrot über die uns geläufigen Raumdimensionen 0, 1, 2, 3, … hinaus und formulierte gebrochenzahlige Dimensionen, die den Grad der Unregelmäßigkeit angeben. So liegt beispielsweise die Dimension der Küstenlinie von England im Bereich zwischen 1 (Gerade) und 2 (Fläche).
Mandelbrot nannte solch` eine Geometrie „Fraktale Geometrie“.
Ein Fraktal bietet dem geistigen Auge die Möglichkeit, Unendlichkeit zu schauen, eben beispielsweise eine unendlich lange Gerade auf einer begrenzten Fläche!
Ein Beispiel dafür ist die sogenannte „Koch`sche Kurve“ oder „Koch`sche Schneeflocke“.
FOLIE 11 , S(Gleick S. 147 und bzw. Farbfolie F1)
Um eine solch` eine Koch`sche Kurve zu konstruieren, beginne man mit einem gleichseitigen Dreieck der Seitenlänge 1. In der Mitte jeder Seite füge man dann jeweils ein Dreieck von einem Drittel Größe des ersten hinzu und fährt ständig so fort. (Man beachte dabei auch die Rückkoppelungsprozesse!) Schließlich ähnelt die Figur einer Art idealer Schneeflocke.
Zunehmend wurden mehr solcher Formen konstruiert, was mittels Computern als Rechner und ihren Bildschirmen heute keine allzu großen Schwierigkeiten bereitet. Dabei ergaben sich wunderschöne Formen und Muster, die Formen in der Natur zum Teil frappierend ähnelten: computersimulierte Berglandschaften, Farne, Kahle Bäume in Winterlandschaften, Wachstumsvorgänge von Pflanzen, Mondlandschaften, Planetenaufgänge usw. Es gibt diese mittlerweile sogar als Shareware für PC`s.
Eine wichtige Eigenschaft solcher Fraktale war die sogenannte „Selbstähnlichkeit!“ Neben ihren bizarren Formen und Linien glichen sie damit Naturerscheinungen. Was „Selbstähnlichkeit“ ist, läßt sich am besten an einem Blumenkohlkopf zeigen. Ein solcher Blumenkohl hat Röschen, die dem ganzen Kopf sehr ähnlich sind. Zerkleinert man auch diese, so bleibt die Ähnlichkeit zu den größeren Röschen wie zum ganzen Blumenkohlkopf.
FOLIE 12 (Bausteine S. 82)
Es wäre in einem Vortrag über Chaostheorie wohl eine Unterlassungssünde, würde man nicht auch das wohl verwirrendste, aber auch beeindruckendste Fraktal vorstellen, die sog. Mandelbrot-Menge bzw. die Mandelbrot`schen Apfelbäumchen!
FARBFOLIE (Gleick ab S. 257)
Wie kommt man bzw. wie kam Mandelbrot zu solch` einer schönen Figur, die bei Vergrößerung immer noch schönere Formen zum Vorschein kommen läßt. Nun Mandelbrot untersuchte durch Computerrechnungen komplexe Zahlen – dargestellt auf der Ebene – auf eine bestimmte Eigenschaft. Er quadrierte die entsprechende komplexe Zahl und addierte die ursprüngliche hinzu. Dieses Verfahren setzte er weiter fort, bis sich zeigte, ob die Gesamtsumme gegen unendlich geht oder nicht. Ging sie nicht gegen unendlich, so gehört der entsprechende Punkt zur Mandelbrot-Menge und wurde auf der Ebene enstprechend (später farbig!) gekennzeichnet. Während man bei reellen Zahlen sehr schnell sagen kann, welche Zahlen zu einer solchen Menge gehören, nämlich alle kleiner als 1, ist dies im komplexen Bereich schwierig. Jede Zahl muß einzeln geprüft werden. Um die komplexe Ebene zu testen, benutzt man ein Punktraster. Und je feiner dieses wurde, desto deutlicher bildete sich die Mandelbrot-Menge heraus. In jeder weiteren Vergrößerung ist das ursprüngliche „Apfelmännchen“ zu sehen.
Mandelbrot war sicher, daß er mit seiner fraktalen Geometrie die Geometrie der Natur vor sich zu haben. Und diese Geometrie bewährte sich dann bei Forschern, die sie beispielsweise bei der Suche nach Ölvorkommen in Erdschichten oder bei der Synthetisierung von Polymeren bis hin zur Stahlhärtung verwendeten.
3.8 Das kreative Chaos: Selbstorganisation
Im Zusammenhang der Chaosforschung war freilich wesentlich: die fraktale Geometrie hilft auch zur Beschreibung der Linien im Phasenraum. Die Attraktoren im Phasenraum waren Fraktale!. Damit schloß sich der Kreis – bei allen offenen Fragen hinsichtlich Bifurkationen und Fraktalen! :
In der Natur liegen Chaos und Ordnung direkt beieinander. Ordnung ist vermutlich sogar die Ausnahme.
Im Chaos schlummert allerdings Ordnung. Aus ihm kann sich Ordnung selbst entwickeln. Ja, die Ordnung in der Natur hat sich so herausgebildet! Die Welt in ihrer ganzen Vielfalt und Schönheit hat sich auf diese Weise entwickelt und wird sich entsprechend weiterentwickeln.
Kleine Störungen können den jeweiligen Attraktor so verändern, daß das System turbulent, chaotisch wird oder sich dann dank des neuen Attraktors stabilisiert und vielleicht auf eine höher Ebene gelangt! Das Chaos ist insofern kreativ. Die Welt ist ein offenes, dissipatives System und wird sich weiter selbst organisieren. Diese Selbstorganisation ist in gewisser Weise determiniert, jedoch nicht voraussagbar, geschweige denn planbar.
4. Das neue Paradigma: Grundsätze der Chaostheorie
1. Es gibt Systemzustände, aus denen sich die zukünftigen Zustände nicht voraussagen und nicht eindeutig berechnen lassen.
2. Naturvorgänge sind stets irreversibel. In abgeschlossenen Systemen geht Chaos in Ordnung über.(Hier gelten also die uns geläufigen Naturgesetze) Es gibt aber Systeme, in denen durch dissipative Prozesse Ordnung aufgebaut werden kann: aus Chaos entsteht Ordnung.
3. In der Natur kann wesentlich Neues geschaffen werden. Die Natur ist in der sogenannten Selbstorganisation schöpferisch. Sie kann nach den einfachsten Gesetzen die kompliziertesten Gebilde aufbauen. Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile.
4. Es gibt Systeme mit „Abwärtsverursachung“, d.h. das Ganze definiert seine Teile und kann nicht auf diese reduziert werden.
5. Kleine Änderungen in den Systembedingungen können katastrophal große Auswirkungen bedingen („Schmetterlingseffekt“). Es gilt nur das Prinzip der schwachen Kausalität: gleiche Ursachen haben gleiche Wirkungen.
6. Der Kosmos ist determiniert (vgl. Feigenbaum-Zahlen), aber nicht in jedem Fall berechenbar. Es gibt demnach Zufall in dem Sinn, daß der Mensch in solchen Fällen keine Voraussagen machen kann und mehrere Systemzustände gleichwertig erscheinen.
4.1 Warum gerade heute ein neues Paradigma „Chaostheorie“ ?
Die Chaostheorie ist ein Produkt des Computerzeitalters. Erst durch Computer und deren enorme Rechenleistung wurde sie erkannt sowie auf sichere Grundlagen gestellt. Zugleich führt sie jedoch die Wissenschaft selbst an ihre eigenen Grenzen. Ein ehrlicher Wissenschaftler muß zugeben, daß er – bei allen nicht zu leugnenden Leistungen, Erfolgen und Fortschritten! -letztlich nichts Genaues weiß. Die Naturwissenschaft führt gleichsam von selbst die Forscher zur Philosophie bzw. zur Religion hin. So war es übrigens schon damals bei der Debatte im Zusammenhang mit der Deutung der quantenphysikalischen Erkenntnisse in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts.
Nur naive „Szientisten“ „glauben“ an die Wissenschaft.
Zugleich ist die Chaostheorie irgendwie auch ein naturwissenschaftlicher Reflex auf die sogenannte Postmoderne. Versteht man Postmoderne als „Verfassung radikaler Pluralität“, dann kann und darf in keinem Bereich vollständiger Determinismus vorherrschen dürfen. Die Freiheit, alles gelten lassen zu können, darf auch naturwissenschaftlich nicht desavouiert werden. Ihr kommt vielmehr die in der Chaostheorie vertretene Gleichwertigkeit verschiedener Systemzustände, das Zufällige und Chaotische zutiefst entgegen. Wendet sich außerdem die Chaostheorie von den einfachen idealen geometrischen Formen der Beschreibung der Natur ab hin zu komplexen, mannigfaltigen Formen der fraktalen Geometrie, dann entspricht dies in gewisser Hinsicht dem Wandel der Architektur und Kunst in der Postmoderne.
Für das Aufkommen der Chaostheorie mitverantwortlich ist gewiß die seit etwa 10 Jahren auftretende zunehmende Sensibilität für die Bedrohungen und Abgründe, die durch wissenschaftlich-technische Errungenschaften im Einklang mit dem Laplace`schen Paradigma aufgetreten sind. Schlagwortartig zusammengefaßt ist dies in den Begriffen „Technikfeindlichkeit“ und „Ökologische Krise bzw. Ökologische Bedrohung“.
Angesichts zunehmender Ratlosigkeit bei der Bewältigung ökologischer Probleme globalen Ausmaßes (Klimakatastrophe; Ozonloch u.a.) ist irgendein Hoffnungsschimmer am Horizont der Wissenschaften dringend nötig. Dieser Hoffnungsschimmer scheint in der Möglichkeit der Selbstorganisation der Materie zu liegen. Die Natur endet demnach nicht notwendigerweise in letzter Unordnung, im Chaos, sondern besitzt Kräfte und Möglichkeiten, die sich selbst organisieren und die wir nicht steuern können.
Andererseits muß dem dann auf seiten der Menschen das Wissen um die „sensitive Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen“ entsprechen. Ein schonender und sorgsamer Umgang mit den Naturerscheinung müßte aus diesem Wissen entspringen. Eine Kleinigkeit könnte ja die Katastrophe, den GAU, das Aus für die Erde bedeuten!
4.2 Versuch einer theologischen Einordnung und Reflexion
Bei einem solchem Versuch ist zunächst an der Erkenntnis festzuhalten: Christlicher Glaube und naturwissenschaftliche Erkenntnis sprechen von verschiedenen Formen der Wahrheit. Der christliche Glaube spricht existentielle Wahrheiten aus, die Naturwissenschaften wissenschaftliche, d.h. durch Experiment und Rechnung überprüfbare und in mathematische Formeln gekleidete Wahrheit.
Eine der wesentlichen Aussagen des christlichen wie jüdischen Glaubens ist, daß Gott keine statische Größe, sondern ein geschichtlich handelnder, lebendiger, man könnte auch sagen dynamischer Gott ist. Menschen haben mit diesem Gott in der Geschichte immer neue – manchmal auch überraschende- gute, hilfreiche und heilsame Erfahrungen gemacht. Gott hat sich immer wieder in ihr Leben und die Weltgeschichte eingelassen und eingemischt.
Das Bekenntnis zur „Erschaffung der Welt durch Gott“ beinhaltet daher zunächst einmal das Staunen über das Wunder des Daseins überhaupt. Der Gott, der Menschen auf ihrem Weg begleitet, sie befreit und ihnen Lebenshilfe verschafft, dieser Gott ist erstaunlicherweise von allem Anfang an auch für die Rahmenbedigungen – sprich natürlichen Verhältnisse – verantwortlich.
Insofern müssen dann auch im Zusammenhang des christlichen Glaubens an Gott den Schöpfer Naturerkenntnisse zur Sprache kommen.
Es ist nun aber erstaunlicherweise so, daß die biblischen Texte ihre Leser nicht festlegen, wie und auf welche Art und Weise Gott die Welt erschaffen hat. Schon am Anfang der Bibel stehen zwei Schöpfungserzählungen, die sich in der Schilderung, wie die Welt erschaffen wurde, total unterscheiden. Es würde zu weit führen dies auszuführen. Festzuhalten ist jedoch, daß diese beiden Schöpfungserzählungen aus verschiedenen Geschichtsepochen stammen und sowohl im 5. Jahrhundert vor Christus (1.Mose 1) wie im 10.Jahrhundert vor Christus (1.Mose2) jeweils eine gelungene Synthese zwischen Naturerkenntnissen und Schöpfungsglauben bieten. Daneben finden sich noch weitere, der Naturerkenntnis der jeweiligen Zeit angepaßte Aussagen über Gott den Schöpfer in der Bibel.
„Es ist jeweils neu möglich, ja sogar notwendig, die biblischen Zeugnisse von der Schöpfung und der Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung auf neue Naturerkenntnisse und neue Theorien zur Deutung dieser Erkenntnisse zu beziehen und sie ihrerseits in deren Licht zu formulieren. Die Offenheit zu immer neuen Synthesen liegt in der Zukunftsoffenheit der biblischen Zeugnisse selbst begründet.“
Beim Versuch einer solchen neuen Synthese von Schöpfungsglauben und Chaostheorie ist zunächst die Rede von Gott als Schöpfer zu differenzieren. Es ist zu unterscheiden zwischen Gottes Schöpfung am Anfang, Gottes fortgesetzter Schöpfung (creatio continua) im Lauf der Geschichte und schließlich Gottes Neuschöpfung (creatio nova) bzw. Vollendung am Ende der Zeiten.
Die Schöpfung am Anfang bezeichnet das Wunder des Daseins der Welt überhaupt. Hinter dieser Welt steckt kein blinder Zufall, sondern beabsichtigter Zufall. Mit der Schöpfung am Anfang ist die Welt in einer unumkehrbare Richtung in Bewegung versetzt. Die Welt ist noch nicht fertig, sondern fernerhin voll neuer Möglichkeiten. Gott erhält einerseits das Geschaffene, begleitet andererseits die Welt durch die Eröffnung neuer Möglichkeiten, bis diese am Ende der Zeit einmündet in das Reich Gottes.
Ich denke, daß sich diese Ansicht sehr gut mit den Aussagen der Chaostheorie verbinden läßt.
In der Chaostheorie ist die Welt ja grundsätzlich die Gesamtheit einer Vielfalt offener, unabgeschlossener Systeme, die Möglichkeiten besitzen, sich auf höherer Ebene neu zu organisieren. Gewisse Attraktoren halten die Systeme stabil. Durch kleine Veränderungen kann ein System auf eine höhere Ordnungsstufe gebracht werden, also von einem neuen Attraktor stabilisiert werden. In dieser Offenheit ragt die Welt ja über sich hinaus, transzendiert sie sich selbst.
„Nennen wir diese Transzendenz der Welt „Gott“, dann können wir versuchsweise sagen: Die Welt ist in ihren Einzelheiten und im ganzen ein gottoffenes System. Gott ist ihre außerweltliche Umgebung, von der und in der sie lebt. Gott ist ihr außerweltlicher Vorraum, in den hinein sie sich entwickelt. Gott ist der Ursprung der neuen Möglichkeiten, aus denen sie ihre Wirklichkeiten gewinnt.
Gott ist seinerseits dann als ein weltoffenes Wesen zu verstehen. Er umgibt die Welt mit den Möglichkeiten seines Seins und durchdringt sie mit den Kräften seines Lebens und seines Geistes. Durch die Energien seines Geistes ist er in der Welt präsent und jedem einzelnen System immanent!“ Jedes offene System atmet Gottes Geist.
In naturwissenschaftlicher, chaostheoretischer Begrifflichkeit, allerdings nicht als naturwissenschaftliche, sondern als theologische Aussage kann man dann weiter formulieren:
Gott ist der Attraktor, auf den sich die Welt hinentwickeln kann und auf den sie hingelockt wird. Auf dem Weg dorthin bleibt jedoch viel Spielraum für verschiedene Gangarten, mithin die Freiheit der Entscheidung für die Menschen. Sie sind nicht bloße Marionetten einer Geschichte, sondern können auf verschiedenen Wegen, auch durch Chaos hindurch ans Ziel kommen.
Literaturliste:
– James Gleick, Chaos – die Ordnung des Universums. Vorstoß in Grenzbereiche der modernen Physik, Knaur Sachbuch 4078, München, 1990
– Haken, Hermann, Erfolgsgeheimnisse der Natur. Synergetik: Die Lehre vom Zusammenwirken, Ullstein Sachbuch 34725, Frankfurt/Berlin 21991
– Davies, Paul, Prinzip Chaos. Die neue Ordnung des Kosmos, Goldmann Taschenbuch 31991
– Peitgen, Heinz-Otto/Jürgens, Harmut/Saupe, Dietmar, Bausteine des Chaos. Fraktale, Klett-Cotta, Berlin/Heidelberg/New York/Stuttgart, 1992
– Moltmann, Jürgen, Gott in der Schöpfung , Kaiser VerlagMünchen 1985
– Heller, Bruno, Chaos und Ordnung. Ist das Chaos wirklich chaotisch? in: Materialdienst der EZW 3/1992 S. 65ff
– Hirsch, Eike Christian, Der diskrete Charme des Tohuwabohu, Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt Nr. 41, 9. Oktober 1992 , S. 10
– Wuchterl, Kurt, Lehrbuch der Philosophie, Uni-Taschenbücher 1320, Bern/Stuttgart, 41992 , bes. S.108ff
– Welsch, Wolfgang, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 31991
G. Kolb, StR Pfr.