Beitrag für das Programmheft zur Aufführung der Johannespassion (Leipziger Fassung von 1725) durch die Nürtinger Kantorei am 14. April 2017
Die Turbachöre in Bachs Johannespassion sind mitreißend – für Mitwirkende wie Zuhörer. Doch deren Aufführung ist „ein Spiel mit dem Feuer“. (P.von der Osten-Sacken). Sie verstärken durch Rhythmisierungen und Wortwiederholungen in der Musik eine antijudaistische Tradition, die sich bis heute über viele Jahrhunderte hinweg gehalten hat. In ihrem Gefolge beschleunigten und intensivierten viele andere nichtreligiöse, ökonomische und psychologische Faktoren einen verheerenden rassistischen Antisemitismus mit dem Holocaust des 20. Jahrhunderts als schrecklichen geschichtlichen Tiefpunkt. Leider sind dieser verabscheuungswürdige Antisemitismus und andere ihm ähnliche unberechtigte Diffamierungen und Ausgrenzungen mit Gewaltanwendungen noch heute an der Tagesordnung.
Jede Aufführung der Passionen von J.S. Bach darf diese Wirkungsgeschichte nicht außer Acht lassen und muss diese vor, während und nach der Aufführung kritisch artikulieren und einordnen.
Im Johannesevangelium, der Textgrundlage der Bachschen Passion, fordern „die Juden“ von Pilatus nachdrücklich Jesu Tod. Pilatus bleibt kein anderer Ausweg als die Verurteilung Jesu zum Tod am Kreuz . Historisch ist diese Darstellung falsch. Jesu Verurteilung und Tod im Jahr 30 nChr. resultierte aus einem Konglomerat von unterschiedlichen Interessen (weniger?) führender religiöser und politischer Schichten des damaligen Judentums und der Sorge des römischen Gouverneurs Pilatus, für Ruhe und Ordnung im Land zu sorgen. In der Darstellung des Johannesevangeliums kommt dagegen am Ende des 1. Jahrhunderts das Anliegen einer judenchristlichen Gemeinde zum Ausdruck. Diese verarbeitet mit ihrer Darstellung ihren Ausschluss aus der jüdischen Religionsgemeinschaft aufgrund ihres Glaubens an Jesus als Gesandten Gottes und Gottes Sohn. Sie wollte sich zudem im römischen Reich nicht als Anhänger eines Aufrührers verdächtig machen.
In der Folgezeit verwandten nichtjüdische Christen diese johanneischen Passionstexte. Seit das Christentum Staatsreligion wurde, waren die Johannestexte über die Jahrhunderte hinweg Allgemeingut christlicher Predigten in der Passionszeit – zunehmend unreflektiert mit „den Juden“ als Negativfolie der eigenen Religion und Projektionsfläche der eigenen Schattenseiten.
In den Judenpogromen des Mittelalters aber auch durch den (theologischen) Antijudaismus des späten Martin Luther wurde nicht nur unsägliches Leid über Menschen gebracht, sondern die „jüdische Wurzel“ des Christentums missachtet. In dieser protestantischen Traditionslinie stand auch J.S. Bach. Expliziter Antijudaismus oder Antisemitismus war ihm fremd. Als „Kind seiner Zeit“ und als lutherisch geprägter Kantor an der Thomaskirche war für ihn jedoch der Text des Johannesevangelium das Wort Gottes, das er musikalisch verkündigen wollte.
Dazu benutzte er die neue Form der oratorischen Passion – mit Gemeindechorälen und Betrachtungstexten in den Arien. Durch sie wird der Zuhörer in das Geschehen hineingenommen und zu einer Stellungnahme herausgefordert.
Die antijudaistischen Aussagen der Turbachöre werden dadurch nicht elimiert, allerdings teilweise sublimiert und manchmal sogar im Sinne von Selbstkritik korrigiert. Die Frage „Wer hat dich (Jesus) so geschlagen?“ soll nach dem Choraltext von der Gemeinde bzw. den Zuhörern mit „Ich, ich und meine Sünden“ beantwortet werden.
Die Turbachöre erhalten durch die retardierenden Momente der Choräle und Arien ein wichtiges Korrektiv. Ihre Aufführung ist dann kein „Spiel mit dem Feuer“, wenn sich die Zuhörer durch das „Gesamtkunstwerk Johannespassion“ emotional mitnehmen lassen und immer wieder Möglichkeiten zur Distanzierung und kritischen Reflexion erhalten.
Die heutige Aufführung der Johannespassion in der Fassung von 1725 will durch ihre Fremdheit im Eingangschor und im Schlusschoral dazu verhelfen. Statt des lauten abgrenzenden (dogmatisch korrekten!) Bekenntnisses „Herr, unser Herrscher“ ertönt zu Beginn der die Passion überspannende leise selbstkritische Grundton „O Mensch, bewein dein Sünde groß“.
An die Stelle der Bitte „Ach Herr, lass dein lieb Engelein“ mit dem Lobpreis „Ich will dich preisen ewiglich“ tritt im Schlusschoral die Bitte „Christe, du Lamm Gottes, erbarm dich unser…, gib uns deinen Frieden“. In diesem Rahmen sind die Turbachöre im dialektischen Sinne gut „aufgehoben“.