Zur gleichnamigen Kantate von Dietrich Buxtehude und mit Deutungsversuch des Chorfensters „Liebe“ von Andreas Felger in der St. Bernhardskirche Neckarhausen

Teil 1: Gott ist Liebe (1. Joh 4) mit Deutung des Chorfensters

Teil 2: Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes (Röm 8) unter Bezugnahme zur Kantate von D. Buxtehude

1. Teil
Liebe Gemeinde!
„Gott ist Liebe“ – das scheint eine Allerweltsaussage zu sein. Viele – nicht nur Kinder, sondern auch Nichtgläubige – reden vom „lieben Gott“ und meinen damit ein recht harmloses Gegenüber, mit dem man machen kann, was man will.
Doch die Bibel redet nicht vom „lieben Gott“, sondern so, wie wir es eben aus dem 1. Johannesbrief gehört haben: „Gott ist Liebe!“ Gott und Liebe werden hier in einem Atemzug genannt.
Aber was ist „Liebe“?
Viele Aussagen aus Schlagern und Volksliedern fallen einem da ein – „Ich lieb’ dich“ in allen Variationen, „Das Lieben bringt groß Freud’“  – doch alles mehr oder weniger oberflächlich, sentimental und nichtssagend. Dem Geheimnis der Liebe Gottes bringen sie uns nicht näher. Also müssen wir uns dem, was „Liebe“ ist, etwas anders nähern – unkonventionell, unüblich.
Ich spare Ihnen dabei eine Auslegung, die ich bei einem meiner Theologieprofessoren in Tübingen gelernt habe. „Liebe ist inmitten noch so großer Selbstbezogenheit eine immer noch größere Selbstlosigkeit“.
Lassen wir das!
Viel näher liegt uns unser Kirchenraum in Neckarhausen. Das mittlere der drei Chorfenster von Andreas Felger trägt den Titel „Liebe“ – neben den beiden „Glaube“ und „Hoffnung“.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen beim Anblick dieses mittleren Fensters geht. Ob sie darin sofort etwas mit Liebe verbinden können. Das Fenster enthält ja keine figürliche Darstellung, sondern spricht nur in den Formen und Farben des Glasmalers. Da ist viel Spielraum für eigene Interpretationen und Entdeckungen – immer wieder neu.

Ich möchte keine verbindliche Interpretation dieses Fensters vornehmen, sondern Ihnen mitteilen, warum und wie es mir den Satz „Gott ist Liebe“ nahe bringt und näher auslegt!
Wo kommt in diesem Fenster überhaupt Gott vor?
Das Fenster soll die christliche Haupttugend, die Liebe symbolisieren. Deshalb steht das Fenster in der Mitte zwischen „Glaube“ und „Hoffnung“. So wie es im 1. Korintherbrief im 13. Kapitel heißt: „Nun aber bleiben Glaube, Liebe Hoffnung – die Liebe aber ist die größte unter ihnen“.
Liebe – eine durch und durch menschliche Tugend.
In der Bibel wird sie mit Gott gleichgesetzt: „Gott ist Liebe“ – Hören wir genau hin: Es heißt nicht „Gott ist mit der Liebe von Mensch zu Mensch zu vergleichen“ also nicht , „Gott ist wie die Liebe“, oder „Gott hat Liebe“, oder „Gott liebt“ – Nein: Gott ist Liebe – Gott und Liebe werden gleichgesetzt ! So kühn und vermessen redet der 1. Johannesbriefs von Gott. Es ist die einzige „Ist“-Aussage von Gott in der ganzen Bibel!
Und ich denke, dieselbe Kühnheit zeigt sich auch im Fenster von Andreas Felger.
Schauen wir also einmal genau hin:
Im Zentrum steht Rot. Umgeben von einer Hülle in Form eines spitzen Ovals, das senkrecht aufgestellt ist.
Künstler und Kunstkenner nennen diese Form „Mandorla“
Vor allem in den Ikonen der orthodoxen Ostkirchen ist die Mandorla sehr beliebt. Sie entspricht dem „Heiligenschein“ in den Bildern unseres Kulturkreises. In einer Mandorla wird „Heiliges“ abgebildet – Mit der Mandorla sagt der Künstler:„Hier ist Göttliches“ – hier ist Gott.
Gott ist Liebe.
Entgegen dem ersten Eindruck ist die Hülle der Mandorla in unserem Kirchenfenster nicht vollständig in sich abgeschlossen. Wie Zwiebelschalen legen sich da verschiedene gebogene Schalenstücke um die Mandorla herum – manchmal brechen sie unvermittelt ab und eine Schalenhaut berührt die andere.
So wirkt das Rot der Liebe nicht in sich abgekapselt, sondern von innen nach außen durchlässig und umgekehrt.
Rot, Blau und Grün dominieren in unterschiedlicher Kräftigkeit in den Schalenhäuten der Mandorla. Manchmal vermischen sich diese Farben in den Schalen zu violett oder auch zu leichtem orange und gelb.
So wie sich Glaube, Liebe und Hoffnung auch im Leben untereinander vermischen und einander brauchen – immer mit einem mehr oder weniger großen Schuss Liebe gefärbt.
Was wäre christlicher Glaube schon ohne die Hilfe für die Bedürftigen? Und wie könnte man Bedürftigen und Notleidenden Liebe erweisen ohne Hoffnung und ohne Glauben?
So vermischen sich Liebe, Glaube und Hoffnung immer miteinander.
predig1.jpgIm Zentrum unserer Chorfenster steht freilich das Rot der Liebe in der Mandorla. Im Innern glüht es wie ein Feuer und will nach außen scheinen, das Außen mit warmem Licht verwandeln.  Das ist für die Liebe nicht ungefährlich. Außerhalb der Mandorla ist in den großen Flächen fast kein Rot-Ton mehr zu erkennen, nur das matte Weiß des Fensters. Fast so wie im alltäglichen Leben, wo man häufig Anzeichen der Liebe mit der Lupe suchen muss.
Doch die Liebe hält das aus. Gott hält es so unter uns aus! Gott zieht sich nicht in irgendeinen wohligen und kuscheligen Raum der Geborgenheit zurück, wo wir ihn dann suchen müssen!. Nein Gott, die Liebe, geht hinaus, verausgabt sich, lässt sich auf die Sprunghaftigkeiten und Widrigkeiten des Lebens von uns Menschen ein!
Die rote Mandorla ist in deshalb in unserer Kirche so positioniert, dass der Gekreuzigte direkt vor ihr am Altarkreuz hängt.
Gott setzt sich bis zum Tod am Kreuz uns Menschen aus, damit wir leben können. „Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen.
Darin besteht die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden.“
Gott setzt sein Herzblut für uns ein, damit das kalte Weiß des Alltags mit dem warmen Rot der Liebe durchdrungen wird und wir leben können – trotz aller Lieblosigkeit und Schuld immer wieder neu anfangen dürfen. So ist er die Liebe.
Noch ein letzter Gedanke zum „Liebesfenster“ von Andreas Felger. Es gab und gibt einige Stimmen in unserer Gemeinde, die – meistens hinter vorgehaltener Hand – dieses Fenster etwas derb „eine Sauerei“ nennen. Nun: so ganz allein werden sie nicht sein. Manch anderer wird auch schon dieselben Assoziationen beim Anblick der Mandorla gehabt haben. Aber beim Gedanken, dass es sich um ein Fenster in einer Kirche handelt, hat er diese Assoziationen schnell ins Reich der schmutzigen Phantasie verbannt.
In der Tat: Die Mandorla gleicht einer geöffneten weiblichen Vagina, einer geöffneten weiblichen Scheide. Sex ist dann hier das Thema.
Wirklich eine „Sauerei“ in einer Kirche?
Nun: Sexualität gehört auch zu Liebe. Sie ist die körperliche und berauschende Seite der Liebe. Und ich denke, dieses Moment gehört zur Liebe Gottes dazu. Gottes Liebe zu uns Menschen ist nie nur „platonisch“, nie nur geistig, sondern immer auch handfest und leibhaftig. Gott ist schließlich der Schöpfer von allem, auch der Schöpfer der Sexualität. Und er zeigt sich und seine Liebe leibhaftig in einem Menschen, in Jesus, der schließlich am Galgen des Kreuzes endet. Gottes Liebe ist Herzenssache und Körpersache. Gott liebt uns mit Haut und Haaren.
Gott ist Liebe, die auch das sexuelle Element beinhaltet!
Aber Achtung! Es heißt nicht: Gott ist Sexualität. Vor dieser Verwechslung warnen die biblischen Schriften des Alten Testaments häufig. Die Israeliten waren immer wieder in der Gefahr, ihren Gott falsch zu ehren, mit Fruchtbarkeitsriten, wie sie es von ihrer Umwelt lernten. Da wurden  Baal oder Astarte – oder wie die Fruchtbarkeitsgötter auch immer hießen – manchmal in berauschenden sexuellen Orgien im Tempel verehrt.
Gibt es da einen Unterschied zu heute? Auch heute meinen viele, im sexuellen Rausch allein sei das Glück zu finden, die höchste Erfüllung – gleichsam ein Gottesersatz.
Vor solcher Vergötterung der Sexualität warnen die biblischen Schriften, nicht vor dem schöpfungsgemäßen guten Gebrauch der Sexualität.
Trotz dieser Abgrenzung: Gott ist Liebe – die Anspielung unseres Kirchenfenster auf das sexuelle Moment dürfen und sollen wir nicht unterdrücken.
Könnte die Anspielung auf die Vagina der Frau nicht noch tiefere Bedeutung haben? Kommt in ihr nicht die Mütterlichkeit Gottes zum Ausdruck? Dass Gott nicht nur wie ein Vater ist, der den verlorenen Sohn aufnimmt, sondern voller Liebe ist wie eine Mutter?
Aus der Scheide kommt bei der Geburt neues Leben – ein Kind der Liebe. Aus Gottes Liebe sind wir Kinder der Liebe, jeder und jede: gewollt, geehrt, umsorgt und beschützt und tagtäglich neu von der Liebe umfangen!
„Sehet welch’ eine Liebe hat uns der Vater erzeiget, dass wir Gottes Kinder sollen heißen!
Lassen wir es uns von einem Terzett zusingen.

2. Teil
„Nichts – nichts – nichts. Nichts soll uns scheiden von der Liebe Gottes!  – auch nichts Hohes!“
Wir kennen alle das „Hohe“ – die Zeiten des Erfolgs, wenn wir in der Karriereleiter ein Stück nach oben gestiegen sind, wenn wir etwas Langersehntes erwerben konnten – das eigene Haus, ein Auto. Zeiten, in denen wir seelisch und körperlich „gut drauf“ waren, in denen rundherum alles stimmig war.
Wo ist Gottes Liebe in diesen Zeiten, wenn wir nur so vor Kraft strotzen, zu Recht stolz sind auf das Geleistete und unseren Erfolg? Nicht selten meinen wir, wir könnten die ganze Welt aus den Angeln heben.
Buxtehude komponiert diese Stelle bewusst im tänzerischen ¾ Takt (Walzertakt)– eben so, wie wir uns fühlen, wenn uns im Leben etwas gelingt.
Nichts kann uns trennen von Gottes Liebe – auch solche Höhenflüge nicht. Wir verdanken sie der Liebe Gottes.
Denken wir in solchen Zeiten und Momenten daran oder sonnen wir uns im Glanz des eigenen Erfolgs? Da stehen doch wir im Mittelpunkt, unsere Leistung, unser Vermögen. Meinen wir, an dieser Stelle Gott nicht zu brauchen? Obwohl Gott, die Liebe, auch hier präsent ist, wenn nicht in „Forte“ so doch im „Piano“.
Hören wir hier die leise Frage von Gottes Liebeswerben: Willst du auch als Erfolgreicher die Liebe Gottes weitergeben? Willst du als Bemittelter dich für Arme und Schwache einsetzen und ihnen ihr Recht zukommen lassen? Willst du auch hier echte Liebe weitergeben – nicht die herablassende Liebe des Überlegenen, des Siegers, einer Liebe, die wenig kostet, mit der er seinen Erfolg noch mehr auskostet, indem er ihn seine Angewiesenheit auf ihn spüren lässt?
Die leise Stimme von Gottes Liebe fragt uns dies in solchen „Hoch-Zeiten“.
Doch häufiger als Höhen erleben viele Menschen die Tiefen.
Tiefen kommen unvermittelt. Man tappt in sie hinein – vielleicht gerade dann, wenn man sich sicher fühlt.
Zumindest die Chorsänger haben es gemerkt: Am Anfang der Kantate setzte der Chor stets auf den ersten Taktschlag ein – Das sitzt richtig tief in einem drin. Man singt voller Überzeugung: „Nichts –  – nichts – nichts.
Doch dann komponiert Buxtehude auf den ersten Taktschlag plötzlich eine Pause. So als ob er warten wolle, ob wirklich etwas kommt, was mich von der Liebe Gottes trennen kann. Klar: Da kommt kein Ton des Chores – aber eine Lücke, eine Pause zwischen den überzeugenden Akkorden des „Nichts, nichts, nichts“ ist entstanden.
So wie im alltäglichen Leben.
Ich kenne die Zeiten und Momente, in denen ich der vollständig von der Liebe Gottes überzeugt bin – ich fühle mich geborgen, bin ausgeglichen, eine fast stoische Ruhe erfüllt mein Herz.
Ich will diese kräftige Lebensmelodie weitersingen, muss aber plötzlich innehalten. Ich gerate ins Stocken – eine Pause tritt ein.
Bei Buxtehude nur die Pause kurz – andere Komponisten benutzen dazu einen ganzen Takt, eine sogenannte Generalpause.
Ja kann mich wirklich nichts von der Liebe Gottes trennen?
Ich musste doch gerade erleben: Mir wurde mein Liebstes, mein Liebster genommen – der Ehegatte, mein kleines Kind
Mir droht der Verlust des Arbeitsplatz oder ich habe gerade meine Kündigung erhalten.
Ein kleines Wehwehchen entpuppt sich plötzlich als eine schwerwiegende, todesbedrohende Krankheit.
Eine Pause, ein kurzes Innehalten.
Da drängt es einen weiterzusingen oder man wird gedrängt, weiterzumachen als wäre Nichts. „Das Leben muss weitergehen!“ heißt es oft.
Doch: Ob man will oder nicht: Eine Pause ist fällig!
Manchmal dauert die Pause sehr lang, weil mich der Schicksalsschlag richtig zu Boden geworfen hat. Die Liebe Gottes – ganz weit weg.
Aber: So wie die Schalen der Mandorla in unserem Kirchenfenster manchmal wie abgebrochen wirken, aber doch ganz nah bei der Liebe Gottes sind, so kann es uns auch gehen: Wir sind ganz nah an Gottes Liebe, bzw. Gottes Liebe ist uns ganz nah – auch wenn wir sie nicht sehen oder spüren.
„Gottes Liebe ist wie die Sonne, sie ist immer und überall da. Hinter dunklen Wolken scheint sie strahlend hell.“ – heißt es in einem moderneren Kirchenlied.
Hinter dunklen Wolken scheint sie strahlend hell.
Wir Menschen erleben immer wieder, wie sich die Wolken verziehen – manchmal vollständig, manchmal lösen sie sich nur ein wenig auf, manchmal geben sie auch nur einen kleinen Spalt für die Sonne frei:
Durch die Liebe anderer hellt sich mein Leben auf. Ein Bekannter sagt mir ein gutes Wort, ein Lächeln eines Mitmenschen muntert mich auf, ein unerwartetes Geschenk lässt mich dankbar werden.
Neue Hoffnung beflügelt mein Leben.
Das Leben kann neu aufblühen. „Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes“ – es ist wahr!

Amen.